piwik no script img

Australische Sporthauptstadt

Beispielsweise Melbourne City Sports – eine Initiative, die von der Stadt gegründet wurde und die die aktive arbeitende Bevölkerung aller Altersklassen während der Mittagspause begeistert

Melbourne ist die einzige Stadt aufder Welt, die ihreeigene Sportart hat

von KIRSTIN ENGELBRACHT

„Hast du keine Brille auf?“, brüllt eine Stimme den Weißen Würmern zu. „That was a specki!“ Gemeint ist „spektakulär“. Der Mann mit blauroter Pudelmütze nimmt einen großen Schluck aus seinem Bierglas und grinst seinen Nachbarn an. „Guck lieber nach vorn, du Würstchen!“ 96:111 – nur noch zehn Minuten Spielzeit. Und wieder fliegt das Ei durchs Tor. Mädchen kreischen, eine Mutter hebt ihren Sohn in die Höhe, eine komplette Firma jubelt – und alle sitzen sie bunt gemischt auf der Haupttribüne. Einige haben Kopfhörer im Ohr und hören die Livedokumentation im Radio. Das Olympiastadion im Yarra Park ist ausverkauft, die Stimmung auf dem Höhepunkt. Und nicht nur heute.

Melbourne ist die Sporthauptstadt Australiens, und so möchte sie auch tituliert werden. Immer wieder zieht es die Fans zum Melbourne Cricket Ground (MCG), in dem über 100.000 Leute Platz finden. Sport ist hier ein Muss. Mit 60.000 Mitgliedern und 12.000 Nominierungen hebt sich der Cricket Club hervor. 130.000 Anhänger stehen auf der Warteliste. Tennis, Golf, Grand Prix, Basketball und Rugby folgen. Gesprächstthema Nummer eins ist allerdings Aussie Rules Football (AFL), denn Melbourne ist die einzige Stadt auf der Welt, die ihre eigene Sportart hat.

In der Tagespresse dominiert der Sportteil. Herald Sun, eine der führenden Zeitungen der Stadt, veröffentlicht täglich zwischen sechs und neun Seiten über das Hobby für „richtige Kerle“. Ob es an den engen Shorts oder Muskelhemden der braun gebrannten Spieler, an der Härte und Schnelligkeit oder einfach an der Stimmung liegt, die Frage lässt sich schwer beantworten. Nahezu jeder Einwohner der Metropole verfolgt die 22 Wochen der Footballsaison mit 176 Spielen und neun Finalrunden, die dieses Jahr noch bis zum 30. September andauern. 13,9 Millionen AFL-Zuschauer waren es allein 1998, davon 50,4 Prozent in den Stadien anwesend. Und gewettet wird immer, beim AFL, Greyhound- oder Pferderennen. Australier lieben das Wetten.

Der Melbourne Football geht bis ins Jahr 1858 zurück und entwickelte sich im Lauf der Zeit zum Victorian Rules Football bis hin zum Australian Football. Zehn von sechzehn Teams stammen auch heute noch aus der viktorianischen Gartenstadt, oft wirkt der Großvater oder Vater noch bei den Blue Carltons, den Collingwood Magpies oder Melbourne Demons – Australiens ältester Mannschaft – mit. Die Bezahlung der Spieler ist dürftig. Neben dem Training stehen sie im Arbeitsleben, besuchen die Universität und sind auf den Straße, in Restaurants oder Bars anzutreffen. AFL-Sprecher Patrick Keane erklärt: „Die Australian Football League wird von Jahr zu Jahr härter, spektakulärer und schneller. Aber das Schöne an diesem Sport ist: Jeder kann mitmachen – kräftige Kerle für den Angriff, geschickte gute Fänger oder lange dünne Renner werden gesucht.“

Im Spiel wird das Ei durch Kicken oder mit der Faust befördert, ein Tor zählt 6 Punkte. Für Aggressionen zwischen den Fans bleibt keine Zeit, denn alle fünf bis sechs Minuten fliegt ein Ball durch die zwei weißen Pfosten. Aggressionen sind auf dem Spielfeld zu sehen. Herkömmlicher Fußball wird Down Under belächelt, die Spieler nennt man „Girls“. Pro Woche verlassen 5 von 40 AFL-Spielern verfrüht den Rasen, mehr oder weniger schwer verletzt. Vielleicht ist das MCG auch deshalb als „das größte Krankenhaus Australiens“ bekannt. Schulter- und Knieprellungen, Knöchel- und Rippenbrüche sind keine Seltenheit. Alles ist möglich: stoßen, rammen, boxen, zu Boden schmeißen. Beim Endspiel Hawthorn gegen Geelong 1989 spielte Robert DiPierdomenico, „The Big Dipper“ (Großer Bär), nach der zweiten Halbzeit mit gebrochener Rippe und gequetschter Lunge weiter. Ein allseits bekanntes Lied ehrt ihn noch heute.

Um den Ball in die Hände zu kriegen, muss ein „Känguru“ schon mal einem „Eagle“ auf die Schulter springen – nichts Ungewöhnliches. Schiedsrichter werden beschimpft oder zwei Spieler tragen ihr privates Wrestling auf dem Feld aus. Platzverweise gibt es nicht, eine Jury entscheidet nach dem Match, ob und wie lange ein Spieler gesperrt wird. Patrick Keane über die Fans: „Wir können von Glück reden, dass wir keinerlei Probleme mit Hooligans oder ernsten Schlägereien haben, es war bis jetzt immer sehr friedlich.“ Die Fans sitzen zusammen auf den Tribünen, trinken Bier und denken sich unterhaltsame Bezeichnungen für die Gegenmannschaft aus.

Ein besonderes Highlight des Australischen Football ist der 25. April, Anzac Day, an dem der 36.000 australischen Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs gedacht wird. Zwei führende Mannschaften, Essendon und Collingwood, treten traditionell gegeneinander an. Ein Bombers-Fan erklärt, er komme jedes Jahr von Sydney geflogen, um dieses Spiel mitzuerleben. Essendons Torjäger Paul Barnard erzielte allein vier Tore. Nach dem Spiel erklärt er: „Anzac Day spielt eine große Rolle in Australien.“

Sport und Fitness sind eine feste Institution im Leben Melbournes. Über eine halbe Million Zuschauer kamen zum Grand-Slam-Turnier der Australien Open, 360.000 waren es beim Quantas Australien Grand Prix, die Rennpferdbranche beschäftigt über 33.000 Menschen. Die Commonwealth-Spiele und die World Master Games – ein Multisportfestival 2002 – sind in Vorbereitung. An der Bells Beach in Torquay treffen sich zu Ostern alljährlich Surfer aus der ganzen Welt zum Wettbewerb im Wellenreiten. Möglichkeiten zum Surfen, Kanufahren, Fischen, Schwimmen und Segeln bietet die Port-Philip-Bucht. Gut ausgebaute Fahrradwege gibt es entlang dem Fluss Yarra. Eine Vielzahl privater und öffentlicher Anlagen machen den Golfsport für jeden möglich. In den Royal Botanical Gardens und im Kings Domain Park mit exotischen und einheimischen Pflanzen sind über 50 verschiedene Vogelarten, Riesenfledermäuse und Opossums zu sehen. An den Wochenenden sind es die Touristen, während der Woche um die Mittagszeit Hunderte von Joggern, die sich hier auf der wohl beliebtesten Rennstrecke „Tan Track“ fit halten. Melbourne City Sports ist eine Initiative, die von der Stadt gegründet wurde und die die aktive arbeitende Bevölkerung aller Altersklassen während der Mittagspause begeistert. Jogging, Basket- und Volleyball, Netzball oder Bowling stehen auf dem Programm. Familien und Naturliebhaber zieht es oft in die Nationalparks King Lake, Dandenong Ranges oder Wilsons Promontory – zum Spaziergang im Busch oder um wieder einmal Kängurus, Emus und Koalas zu beobachten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen