piwik no script img

Hintertür nach Wimbledon

Auch in diesem Jahr beehren viele Spitzenspieler das Rasentennisturnier im westfälischen Halle, das preisgeldmäßig sogar die traditionsreiche Veranstaltung im Londoner Queen’s Club überflügelt hat

aus Halle/WestfalenMICHAEL BECKER

„Wimbledon fängt in Halle an“, werben die Veranstalter der Gerry Weber Open, dem einzigen Rasentennis-Turnier in Deutschland, das in dieser Woche im ostwestfälischen Halle ausgetragen wird. Ganz richtig ist das nicht. Genau genommen müsste es heißen: Wimbledon fängt in Halle oder im Londoner Stadtteil West Kensington an. Im dortigen Queen’s Club findet nämlich zeitgleich ein weiterer hochkarätig besetzter Wettbewerb statt, den zahlreiche Profis gerne nutzen, um sich nach der Kräfte zehrenden Sandplatzsaison mit den French Open in Paris als Höhepunkt an das viel schnellere Spiel auf dem grünen Rasen zu gewöhnen.

Als der Textilunternehmer Gerry Weber sich 1993 mit der ersten Auflage seiner Open anschickte, dem Turnier im Queen’s Club mit einer Veranstaltung in der westfälischen Provinz Konkurrenz zu machen, war das durchaus mutig. Queen’s hatte damals bereits eine langjährige Tradition und galt bei vielen Profis als die optimale Vorbereitung auf Wimbledon. Die Clubanlagen des Queen’s Club und des legendären All England Club an der Church Road im Südwesten Londons sind nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Die Spieler können also nach den French Open von Paris direkt nach London reisen und dort ohne einen weiteren Umzug bis zum Saisonhöhepunkt in Wimbledon bleiben. Zudem ist die Beschaffenheit der Plätze fast identisch. Für Boris Becker zum Beispiel war die Woche im Westen Kensingtons immer ein fester Bestandteil seiner Saisonplanung. Hier konnte er sich quasi in der Diele auf die großen Auftritte in seinem Wohnzimmer, wie er den Center Court von Wimbledon liebevoll zu nennen pflegte, einstimmen.

Heute, da die neunte Auflage der Gerry Weber Open läuft, kann man das Experiment als geglückt bezeichnen. Beide Turniere stehen ebenbürtig nebeneinander. In der Preisgeldsumme, ein augenscheinliches Indiz für die Qualität des Teilnehmerfeldes, haben die Gerry Weber Open (975.000 Dollar) Queen’s (775.000) sogar überholt.

Gelungen ist dies, abgesehen von einem beträchtlichen finanziellen Aufwand, vor allem durch viel Liebe zum Detail. Bis in die letzte Kleinigkeit galt in Halle von Anfang an Wimbledon als das große Vorbild: Das Design und die Farben des grün-violetten Logos, die in der Stadiongastronomie erhältlichen Erdbeeren mit Sahne und nicht zuletzt der berühmte „heilige Rasen“. Um Letzteren nach Halle zu holen, verpflichtete Weber bereits für die erste Austragung seines Turniers als Rasenmeister Phil Thorn, Sohn von Jim Thorn, dem von 1982 bis 1992 hauptverantwortlichen „Greenkeeper“ von Wimbledon. Da Phil, in den Achtzigern Assistent in Wimbledon, seinen Vater gleich mitbrachte, stand dem großen Ziel nichts mehr im Wege: „Weber wollte den Rasen von Wimbledon nach Halle holen. Das haben wir geschafft. Unser Platz eins ist genau so gut wie jeder Platz in Wimbledon. Wahrscheinlich sogar etwas besser“, sagt Jim Thorn.

Darüber hinaus ist es Weber gelungen, in Halle insgesamt eine nahezu perfekte Anlage aufzubauen. Die Trainingsplätze, ein Golfplatz und das Hotel für die Spieler befinden sich kaum fünf Minuten Gehweg vom Center Court entfernt. Dafür gibt es Lob von allen Seiten. „Es ist fast unglaublich, was hier bewerkstelligt wurde. Es stimmt einfach alles: Die Einrichtungen, die Organisation und die Betreuung der Spieler sind vorbildlich“, schwärmt Martin Dagahs, Manager für Kommunikation bei der Spielergewerkschaft ATP. Als Lohn haben die Spieler selber das kleine „Wimbledon in Westfalen“ 2000 zum besten Turnier des Jahres gewählt.

Auch wenn erneut weder Pete Sampras, der lieber in London zu spielen pflegt, noch Andre Agassi, der nur 1993 für eine kleine Stippvisite mit Erstrundenaus kam, den Weg nach Halle gefunden haben, kann sich die Liste der Teilnehmer auch in diesem Jahr wieder sehen lassen. Zwar sind nur wenige ausgewiesene Rasenspezialisten dabei, aber diese Spezies scheint im aktuellen Profitennis ohnehin vom Aussterben bedroht. Neben Topstars wie Jewgeni Kafelnikow, der das Turnier bereits zweimal gewinnen konnte, und Patrick Rafter tummeln sich seit Wochenbeginn das komplette deutsche Daviscup-Team sowie weitere Top-Ten-Spieler auf dem Haller Rasen.

In den ersten Tagen gab es wenig Überraschungen. Bis auf den Franzosen Arnaud Clement und den Spanier Alex Corretja, der nach seiner Finalteilnahme in Paris noch müde wirkte, gewannen alle topgesetzten Spieler ihre Auftaktmatches. Auch das sportliche Niveau in Halle muss sich vor dem des traditionsreichen Rivalen im Queen’s Club also nicht verstecken. Und eine weitere Gemeinsamkeit haben die Londoner und die ostwestfälische Veranstaltung: Beide Austragungsorte sind für ihr schlechtes Wetter bekannt. Nur lässt sich in Halle das Dach über dem Center Court schließen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen