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Das Baumeln des Bösen

Verschiedene Komponisten und Musiktheaterregisseure haben sich in jüngster Zeit auf der Bühne mit Schoah und Nationalsozialismus beschäftigt. Eine überzeugende Auseinandersetzung fand nicht statt

von FRIEDER REININGHAUS

In Dortmund steht das Opernhaus an der Stelle, wo 1938 in der Reichspogromnacht die Synagoge niedergebrannt wurde. Der jüdischen Geschichte des eigenen Hauses hat sich der scheidende Generalintendant John Dew gestellt. Beim estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür gab er ein Stück in Auftrag über den Diplomaten Raoul Wallenberg, der als schwedischer Statthalter in Budapest vielen Juden das Leben rettete, bevor er am Ende des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion verschleppt wurde, und dort in der Haft umkam.

Erkki-Sven Tüürs Oper zeigt Wallenberg beim Arbeitsessen mit Adolf Eichmann, der sich vor seinem Abtauchen noch von ihm verabschiedet und die beiderseitigen Erfolgsquoten ironisch diskutieren will. Hermetische Aktenwände umschließen den ersten wie den zweiten Akt. Zuerst rahmen sie eine Moskauer Pressekonferenz, die auf die Suche nach einem Verschollenen reagiert, der dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR in die Hände fiel und „verschwand“. Doch bald schiebt sich ein anderer, im Hintergrund bereits angedeuteter Handlungsstrang ins Zentrum des Bühnengeschehens: der Prozess gegen Eichmann, den Chef-Administrator des Holocaust.

Nun sind dem Musiktheater seit den barocken Zeiten von Agostino Steffanis „Enrico Leone“ Sprünge durch Raum und Zeit selbstverständlich. Deshalb wird auch niemand „mangelnden Realismus“ beklagen, wenn die Hommage an Raoul Wallenberg in ihrem zweiten Teil das Verfahren gegen Eichmann in Tel Aviv einbezieht und dessen Hinrichtung durch den Strang vorführt. Eher verstimmt die Mechanik des Gut-Böse-Schemas, die sich in diesem Stück mit unerbittlichem Crescendo auftut: ein gut gemeintes Werk wie dieses scheint eben ohne einen richtigen Schuft nicht auskommen zu können.

Über dem Baumeln des Bösen am langen Seil mag man Wallenberg, die Hauptfigur, fast ganz vergessen. Dann aber setzt die Reflexion der medialen Verwertung des Falles ein, zugespitzt in Dialogen zwischen dem als Schatten seiner selbst auf der Bühne noch existenten Wallenberg und der in Hollywood kreierten Popversion. Fast handgreiflich geraten die beiden beim Ringen um geschichtliche Wahrheit und Vermarktung aneinander. Hier erst wird ganz einsichtig, warum dieses Sujet auch das Theater brauchen kann. In Dortmund wurde vom Dew-Adlaten Philipp Kochheim durchaus Norman Finkelsteins „Holocaust-Industrie“ mitgedacht und mitinszeniert. Visuell umgesetzt wurde das aber auf altbekannte, grell-plakative Art.

Bis vor kurzem noch mied das Musiktheater die ernsthafte Beschäftigung mit der Schoah. Zwar hatte Grigori Frid etwa vor mehr als zwanzig Jahren aus dem Tagebuch der Anne Frank ein Monodrama gewonnen; diese Kammeroper wurde 1997 in Frankfurt aufgeführt. Und kurz davor war auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz mit Peter Michael Hamels „Endlösung“ ein voller Zugriff auf das insgesamt nicht Darstellbare versucht worden – eine Freiluft-Inszenierung, die das gruselige Ambiente der finsteren Kasematten stimmig einrahmte, die aber die Musik nur als Stimmungsträger im Hintergrund benötigte.

Zwar hatte ihr intensiveres musikalisch-künstlerisches Ringen um die „Bewältigung“ dieses Stoffes bereits vor einigen Jahren begonnen, doch erst in diesem Frühjahr kam in Dresden „Celan“ von Peter Mussbach und Peter Ruzicka auf die Bühne. Eine Annäherung an das traumatische Thema über den Umweg des traumatisierten Dichterlebens und unter Zuhilfenahme von authentischem Filmmaterial. Einen vergleichbaren Umweg ging auch Volker David Kirchner mit seinem jüngsten Opus „Ahasver“, das kürzlich im Stadttheater Bielefeld zur Uraufführung gelangte: ein Episodenstück, das durch Zeiten und Räume springt, auf den Kulminationspunkt der Liquidation des Warschauer Ghettos durch die Nazis zu. Dabei wurde weit ausgeholt: Da der Schuster Ahasver sich geweigert haben soll, dem dürstenden Jesus auf dessen Kreuzweg Wasser zu reichen, wurde er von diesem zu ewiger Unruhe, fortdauernder Wanderschaft verdammt.

Der mythenbewanderte Komponist ließ diesen „Ewigen Juden“ in zehn signifikanten Szenen aus dem Dunkel der Geschichte auftauchen. Kirchners zitatengespickter Tonsatz hielt sich dabei allerdings weithin zurück und ließ dem turbulenten Theater, dem überbordendem Budenzauber von Andrej Woron den Vortritt.

In Amsterdam widerum nähert man sich der jüngeren Vergangenheit gerade mit einem Stück über das einst immens populäre Entertainerpaar Nol van Wessel und Max Kannewasser, die sich Johnny & Jones nannten. Vor siebzig Jahren bildeten sie ein sehr beliebtes Duo in den Niederlanden. Den beiden Musikern haben der Librettist Carel Alphenaar und der Komponist Theo Loevendie ein Drei-Personen-Stück mit Musik gewidmet: eine Erinnerungsarbeit mit heimatkundlicher Komponente.

Loevendie wurde durch die 1995 ebenfalls in Amsterdam uraufgeführte Résistance-Oper „Esmée“ auch in Deutschland bekannt. Nun also ein Parallelstück: Die Story der Swing-besessenen Sänger sowie deren Muse Caroline wird von der Gegenwart her aufgedröselt. In der pflegen Alexander, ein Enkel Johnnys, zusammen mit dem Freund André die steinalte Caroline, die in ihren stürmischen Jahren mit den beiden Gesangssolisten auftrat und diese Zeit in der Erinnerung verklärt. Freilich finden Alexander und André, die immer wieder in die Kostüme von Johnny und Jones schlüpfen, nach und nach eine weniger heroische Wahrheit heraus: dass nämlich Caroline und deren einst einflussreicher Vater nichts unternahmen, um die beiden jüdischen Musiker vor dem Sammellager zu bewahren.

Theo Loevendies Musik knüpft bei den Schallplatten von Johnny & Jones an: Der angerostete alte Tonsatz erscheint hie und da angeknabbert, dann zunehmend übermalt und ausgefranst. In Erinnerung gerufen wird mit dem Werk auch, was die deutschen Besatzungsbehörden im Nachbarland von 1940 an verboten haben: Schlagzeugsoli, Glissandi der Blechblasinstrumente, Boggie Woogie und alle „jüdische Musik“. Und ins Gedächtnis gebracht wird, dass Johnny & Jones noch eine ganze Zeit lang trotz Restriktionen und Verboten produzieren konnten und sich dann freiwillig zur Fahrt ins Lager Westerbork entschlossen, um dort für die Internierten zu singen. Auch sie wurden in Bergen-Belsen ermordet.

Bis heute dient die Erinnerung an den Widerstand in den Niederlanden als identitätsstiftender Faktor. Dabei trägt das Stück von Loevendie mit einer „Abschiedssymphonie“ dick auf. Ein Musiker des Ensembles im Orchestergraben wird nach dem anderen von zwei Schergen des Sicherheitsdienstes verhaftet und abgeführt. Zuerst die Blechbläser. Denn ein Schlagzeuger. Am Ende muss auch der Pianist muss den Weg nach Westerbork antreten. Die Opfer sammeln sich auf der Bühne, die sich bald in einen Blutsee verwandelt.

Mit eindringlichen Worten, expressiven musikalischen Gesten und einer drastischen Bildmetapher bedient diese Kurzoper einen inzwischen eingespielten Mechanismus und sucht „Betroffenheit“ herzustellen. Für die hätte es zunächst aber wohl einer Musik bedurft, die sich entschiedener von den historischen Mustern abhebt und etwas Eigenes, Neues setzt.

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