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Vom Schutz des Gesetzes ausgeschlossen

Der Philosoph Giorgio Agamben ist bei uns noch kaum entdeckt. Es sind die Flüchtlinge und Staatenlosen, die Häftlinge in Konzentrationslagern, die bei Agamben der im römischen Recht definierten Figur des Homo sacer entsprechen. Der Figur des heiligen Mannes, um die es in seinem Hauptwerk geht

In diese Situation theoretischer Ratlosigkeit fiel „Homo sacer“

von CORNELIA VISMANN

Giorgio Agambens Buch „Homo sacer“ ist im Gespräch, noch bevor es – wohl in diesem Herbst – auf Deutsch erscheinen wird. Die meisten, die darüber reden, werden weder die englische Übersetzung noch gar das italienische Original gelesen haben. Allein die Tatsache, dass jemand, der hierzulande bestenfalls durch seine philosophische Studie „Bartleby oder die Kontingenz“ bekannt ist, in der Tradition Michel Foucaults schreibt und dennoch rechtliche Fragen erörtert, sorgt für Gesprächsstoff. Denn die Diskursanalyse hat das Recht eigentlich aus ihren Forschungen ausgeklammert.

Foucault hatte mit seinem Epoche machenden Werk „Überwachen und Strafen“ die Abkehr von rechtlichen Fragen eingeleitet. Er schreibt darin, dass es von gemarterten und geschundenen Körpern handeln werde. Sie bilden nach seinem Wort den „Gegenpol zum Körper des Königs“, dem bislang die größte Aufmerksamkeit der Historiker galt. Foucault lenkte sie auf die vernachlässigte und vergessene Kehrseite, die er zu Ehren des Autors der „Zwei Körper des Königs“, Ernst H. Kantorowicz, den „geringsten Körper des Verurteilten“ nannte. Die Umbesetzung war Programm. Sie verkehrte das ideengeschichtliche Interesse an Rechtsfragen zu Souveränität und Königswürde in sein diskursanalytisches Gegenteil. Eine Reihe von Forschungen kümmerte sich fortan um die Physis der Körper und nicht etwa um juristische Konstruktionen von Körperschaften. Sie beschäftigten sich nicht länger mit Staatsideen, sondern mit staatlichen Anstalten und ihren Unterwerfungspraktiken.

Wie alle übertriebenen Einseitigkeiten führte auch diese schließlich zu einer Gegenbewegung. Die zeremonielle Seite der Macht wurde wieder entdeckt, die rhetorischen Machtspiele etwa im elisabethanischen Theater wurden neu erkundet und die Finessen rechtlicher Konzepte auch von Nichtjuristen erörtert. Graduiertenkollegs entstanden, die Worte wie Performanz, Theatralik oder Rhetorik im Titel führten. Eine präzise Theorie zum Verhältnis von symbolischer und effektiver Macht fehlte. Jeder, der sich damit beschäftigte, legte sich so seine eigene These zurecht, wie die eher rechtsförmige Perspektive mit einer diskursanalytischen zu vereinbaren sei: Kantorowicz mit Foucault, Kantorowicz statt Foucault oder umgekehrt?

In diese Situation theoretischer Ratlosigkeit fiel Agambens Buch „Homo sacer“, und das erklärt möglicherweise die Neugier, mit der die deutsche Übersetzung seither erwartet wird. Das Buch bietet eine Analyse des sterblichen und von der Macht zugerichteten Körpers, die Rechtsfragen nicht ausblendet. Im Gegenteil. „Homo sacer“ setzt mit einer Erörterung des Ausnahmezustands nach Carl Schmitt ein. Als juristische Analyse der Begründungsparadoxien von Souveränität und Ausnahmezustand enthält sie nicht einmal so sehr neue Einsichten. Die Pointe liegt vielmehr in der Verlängerung der rechtsphilosophischen Betrachtung auf eine unmittelbar politische. Der Ausnahmezustand ist nicht etwa irgendeine juristische Spitzfindigkeit. Er bringt den Körper der Verurteilten hervor. Bei Agamben sind es die Flüchtlinge und Staatenlosen, die Häftlinge in Konzentrationslagern, diejenigen, die das römische Recht in der Figur des Homo sacer definiert. Schlagartig wird deutlich, dass das 20. Jahrhundert von einer Politik des Ausnahmezustands getragen ist. Dass es deutlich werden kann, verdankt sich der Zusammenschau von Kantorowicz und Schmitt mit Foucault.

Agamben analysiert die Praxis der Ausnahme auf der Grundlage der Theorie der Souveränität. Er unterwirft sein Denken nicht der Trennung in Rechtskörper und sterblichen Körper und kann deswegen nachweisen, welche hohe Wirksamkeit gerade diese Ideologie der Trennung in der Geschichte des gesamten Abendlandes hat. Sie wertet das bloße Leben gegenüber der Idee vom Leben ab. Agamben bessert hierin Foucault nach, dessen Abkehr von rechtstheoretischen Fragen die Einsicht in die – schließlich lebensvernichtenden – Folgen dieser Unterscheidung in einen juristischen und einen natürlichen Körper blockierte.

Die Monografie „Homo sacer“ steht nicht allein in der Tradition von Michel Foucaults Forschungen. Auch Walter Benjamin gehört dazu. Dessen Werk hat Agamben in Italien bekannt gemacht. Am Donnerstag, den 21. Juni wird er in Frankfurt am Main Benjamins Geschichtsthesen auf dem Hintergrund der Theologie des Apostels Paulus lesen. Schon am Titel „Homo sacer“ lässt sich die Nähe zu Benjamin erkennen. Homo sacer ist eine Figur, ebenso wie der Flaneur. Benjamin hatte ihn zum Emblem des 19. Jahrhunderts stilisiert. An den Verwandlungen und Verwandten des Flaneurs, vom Jäger bis zum Journalisten, vermaß er eine Zeit, deren Ende im Faschismus er auf diese Weise gewahr wurde. Auch der heilige Mann, Homo sacer, führt eine bestimmte Reihe von Figuren an: die der Marginalisierten und Ausgestoßenen. Doch fehlt dieser Reihe ein zeitlicher Index. Eine Genealogie lässt sich daraus nicht ableiten, so wenig, wie eine drohende Gefahr daran erkennbar wird. Homo Sacer ist, anders als Benjamins Flaneur, kein Ahnherr, sondern ein Archetypus. Er ist eine Figur, die das Recht geschaffen hat, um das zu personifizieren, was außerhalb des Gesetzes steht, oder genauer, was aus dem Schutz des Gesetzes ausgeschlossen wird. Ob es in der römischen Antike tatsächlich die Praxis gegeben hat, bestimmte Verbrechen mit dieser Art von Bann zu belegen, ist ungeklärt. Agamben interessiert es auch nicht sonderlich. Er ist kein Rechtshistoriker. Er führt die Figur des Homo sacer ein, um daran die Struktur von Souveränität und Ausnahme zu markieren.

Die Figur der Ausnahme ist der Gegenpol des Souveräns. Agamben kann im Anderen des Souveräns sämtliche Erscheinungsformen von Ausgeschlossenen spiegeln, ob Häftlinge in Konzentrationslagern oder Flüchtlinge aus Ruanda. Eine Differenz zwischen den einzelnen Ausprägungen des Homo sacer lässt sich nicht ausmachen. Weder werden die Kontinuitäten sichtbar, die Benjamin in der genealogischen Reihe des Flaneurs aufdecken wollte, noch die Diskontinuitäten, die Foucault suchte. Das ist auch nicht die Funktion des Homo sacer. Er ist das Emblem für den unerbittlichen Mechanismus von Souveränität und Ausnahme, der Ausgestoßene fordert, damit die Rechtsordnung sich etablieren kann.

Man könnte Agamben vorwerfen, dass seine Phänomenologie des Homo sacer ein allzu passendes Erklärungsmuster für die unzähligen und vielgestaltigen Formen und Politiken von Exklusionen bereithält. Doch auf der anderen Seite stört er damit gerade diejenigen auf, die die Inkommensurabilität des Leidens beschwören, wenn es darum geht, konkret über die Ausgeschlossenen zu sprechen. Die Rede von der Undarstellbarkeit des Holocaust lässt Agamben jedenfalls nicht gelten. Er setzt sich über solche bequemen Tabus hinweg. Der ausgebildete Jurist fragt im letzten Kapitel des „Homo sacer“-Buchs beispielsweise nach der damaligen Rechtsgrundlage für die Inhaftierung in Konzentrationslagern. Sein vor zwei Jahren unter dem englischen Titel „Remnants of Auschwitz“ erschienenes Buch widmet er ausschließlich der Frage, was über das Überleben in Konzentrationslagern gesagt werden und wie man darüber sprechen kann. Je präziser und materialreicher er es beschreibt, desto mehr erkennt man darin den Stil der beiden Denker wieder, die ihn geprägt haben: Foucault und Benjamin.

Giorgio Agamben wird am 21. Juni um 20 Uhr im Hörsaal A der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main über „The structure of messianic time“ sprechen

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