Strom des Begehrens

Der Rummel über Berlin: Madonna macht Station in Deutschland oder Wenn schon alles gesagt ist – ein Blick ins Auge der Hysteriemaschine

von TOBIAS RAPP

Ja, es gibt sie wirklich. Sie, das ideelle Zentrum jener großen Hysteriemaschine, die seit ungefähr einer Woche das hauptstädtische Leben strukturiert und jeden Tag neue Geschichten ausspuckt, Erinnerungen antriggert und Begehren in Umlauf setzt. Es gibt sie wirklich. Und sie ist genauso klein, wie man es sich immer erzählt.

Sie ist ein Mensch, genau wie wir – wir, die wir uns durch den Rauch der Bratwurst-Buden, das Gehetze der ungezählten Kamerateams und die Rufe der Kartenverkäufer in die Max-Schmeling-Halle kämpfen. Was machen die bloß, wenn sie ihre Karten nicht loswerden? Kommen die ins Konzert und haben schlechte Laune? Bloß nicht. Madonna! Die, über die schon alles gesagt ist! Madonna! Die, die immer ihr Image wechselt! Juchu!

Natürlich ist es erst mal dunkel. Klar. Trockeneisnebel. Alles fängt immer mit Trockeneisnebel an. Und dann – die Band. Sie wird aus dem Bühnenboden hochgefahren. Sie trinken Bier und spucken ins Publikum. Punkrock? Tatsächlich. Es kracht. Und dann ist sie da – Madonna! Uuuuh! Sie trägt einen Schottenrock, und darunter eine jener Punk-Hosen, die Riemen zwischen den Beinen haben. Nicht zwischen den Knöcheln natürlich, eher zwischen den Knien – und auch das nur angedeutet, sonst könnte sie ja nicht tanzen. Die Band sieht aus wie die Punkrocker aus Spike Lees „Summer of Sam“, sehr überzeugend. Wir sind verwundert. So laufen in Berlin-Mitte ja auch alle herum. Und Madonna spielt Gitarre! Sie ruft „Fuck you, Motherfuckers!“ – sind tatsächlich wir gemeint?

Zweiter Akt: Japan. Madonna als Geisha auf der Leinwand und in einem Priestergewand auf der Bühne. Das Bondage-Motiv der Punkrockhose wird wieder aufgenommen: Gefesselte Tänzer hängen von der Decke und winden sich. Sehr hübsch. Die Bühne ist in blutrotes Licht getaucht, und beim Schwertkampf fliegt Madonna durch die Luft, um einen bösen Unterweltherrscher aus der baumartigen Stahlskulptur zu treten. Begeisterung.

Madonna rennt in die eine Bühnenecke und winkt: Wir winken zurück! Es gibt sie, sie winkt uns! Madonna rennt in die andere Bühnenecke und winkt. Begehrensströme fließen durch den Saal. Wir sind da, sie ist da, unser aller Erinnerungen sind da: es ist schön. Madonna macht einen Schritt nach vorn, einen Schritt in Richtung Bühnenrand, tritt eine Stufe von der Bühne herab, nähert sich dem Normalnull des Parketts um zwanzig Zentimeter – schon dreht der ganze Saal durch. Man weiß gar nicht so genau, wo man hinschauen soll: auf die Bühne, wo die echte Madonna steht, oder auf eine der beiden Leinwände neben der Bühne, wo das Konzert auch zu sehen ist. Auf der Leinwand sieht sie vertrauter aus, aber auf der Bühne ist sie in echt. Auf der Leinwand sieht man ihren Kopf, wenn sie sich am Bühnenrand räkelt. Auf der Bühne sieht man nur: Da liegt jemand. Aber: auch Madonna liegt, wenn sie sich hinlegt, genau wie wir!

Wenn Punkrock eher das aggressive Moment betonte und Japan eher das Esoterische hervorhob, so kommt nun die dritte Abteilung: Spanien/Lateinamerika: Leidenschaft. Flamenco, La isla bonita und Evita. Eine Reise um die Welt in 80 Minuten, praktisch, wenn man eine Welttournee macht, da freuen sich alle, denkt man sich. Und als sie ein Lied auf Spanisch singt, überlegt man sich für einen Augenblick, wie mag das wohl in Barcelona gewesen sein? Wie muss sich das anfühlen, wenn Madonna nicht nur für einen singt, sondern auch noch die Sprache wechselt, damit wir sie besser verstehen? Nicht auszudenken! Wie schön! Leider muss sie sich umziehen, als „Don’t cry for me, Argentina“ ertönt. Hätte sie tatsächlich die Bühne betreten, wäre sie wahrscheinlich von unseren Tränen weggespült worden. Ergreifend.

Dann der vierte Akt: die Vereinigten Staaten. Heuballen zieren die Bühne, alle tragen Cowboy-Hüte und der rote Faden des Bondage legt sich in Form eines Lassos um Madonnas Taille. Seufz. Echter Matsch ziert die Jeans: Sind das diese Mudjeans, der neueste Schrei aus Amerika? Bestimmt!

Nachdem wir so viele Straßen getravelt sind, das Finale: „Holiday“, New York 1983. Der Klassiker: Ferien! So müsste es immer sein. Darum geht es schließlich: Ferien, der Fluchtpunkt all unseres Sehnens und Trachtens! Und, als sei das noch nicht genug, der Abschluss: „Music“. Vor einer Leinwand, auf der, als seien es die fünf Minuten vor dem Tod, noch einmal die Bilder aus Madonnas Karriere an uns vorbeiflackern. Ihre Bilder, unsere Bilder. Aber es ist nicht der Tod, höchstens ein kleiner – „Music“, der Bourgeois und der Rebell, also wir alle, der Universalismus der ganzen Show kommt zu sich selbst – dann ist es vorbei.

Puh. Es gibt sie wirklich, tatsächlich.