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Standortproblem Geiz

Deutschland ist internationales Schlusslicht bei den Bildungsausgaben. Dabei lässt nichts die Wirtschaft so stark wachsen wie Investitionen in das „Humankapital“

Den Dänen ist ein Grundschüler 6.700 Dollar im Jahr wert – den Deutschen nur 3.500 Dollar

Kalt, kälter, noch kälter. Die Temperatur des deutschen Bildungskörpers ist deutlich unter normal gesunken. Viele Jahre war man ja eher der Meinung, das Bildungssystem sei überhitzt. Viel zu viele gingen viel zu lange auf Schulen und Hochschulen. Am Ende, dem bösen, stehe dann das akademische Proletariat massenhaft auf der Straße oder fahre als überqualifiziertes Personal Taxi. Nichts dergleichen ist eingetroffen.

Stattdessen sind wir im internationalen Vergleich zurückgefallen. Nur 28 Prozent der jungen Erwachsenen entschließen sich in Deutschland zum Studium. Dieser Wert wird bei Industrieländern nur noch von Mexiko und Tschechien unterboten. Der durchschnittliche Anteil von Studienanfängern liegt in den Industrieländern von Kanada bis Korea bei 45 Prozent.

Diese Werte sind nur ein Beispiel für die zum Teil dramatischen Ausschläge auf der bildungspolitischen Fieberkurve, die jährlich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung veröffentlicht. In der OECD sind die 29 führenden Industrieländer zusammengeschlossen.

Dass wir nicht so viele Akademiker brauchen, war bei uns bis vor kurzem herrschende öffentliche Meinung. Die Politik exekutierte sie und fuhr eine Strategie, die man in der Bildungstheorie Cooling-out nennt: Seminare überlaufen lassen. Ansprüche aller Beteiligten runterfahren. Eher abschrecken als werben und sehen, wer trotz allem übrig bleibt. Nach mehr als 25 Jahren Cooling-out muss man sich nun um den erkälteten deutschen Patienten sorgen.

In den 90er-Jahren ist die durchschnittliche Ausbildungsdauer in den Industrieländern um 15 Monate auf 16,4 Jahre gestiegen. Vor allem im Studium und bei der Berufsausbildung registriert die OECD in vielen Ländern Bewegung. So hat es Finnland in wenigen Jahren fast geschafft, das politisch gesetzte Ziel von 70 Prozent Studienanfängern des jeweiligen Jahrgangs zu erreichen. Viele gehen auf neu eingerichtete fünfjährige polytechnische Hochschulen. Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, in denen die Anfängerquote in den vergangenen Jahren nicht gestiegen ist. Bei „Veränderungen der Studierendenzahl“ belegen wir den letzten Platz. Spitzenreiter Neuseeland indessen konnte die 70-Prozent-Marke bei den Studienanfängern schon überschreiten. Schweden liegt bei mehr als 60 Prozent, die Niederlande haben 54 Prozent, Ungarn hat 58 Prozent. Das sind die aufstrebenden Länder. In den USA und England immerhin studieren 45 Prozent. Mit diesen Ländern müssen wir uns vergleichen mit unseren 28 Prozent.

Deutschland war Weltmeister in der alten Ordnung. Da stand auf der einen Seite das duale System der Berufsausbildung. Es war für die Mehrheit da und sorgte für einen hohen Standard gut ausgeführter Facharbeit. Kreativität war weniger gefragt. Auf der anderen Seite lange wissenschaftliche Studien für nur wenige. Inzwischen holt unsere Berufsausbildung bei der Olympiade der Lehrlinge, wie kürzlich in Montreal, keine Goldmedaillen mehr. Und international begehrte Spitzenunis wie Harvard, Stanford, MIT gehen – anders als Heidelberg oder Göttingen – von der traditionellen Lehre immer mehr zu Projekten und Case Studies über. Studieren als Forschung. Lernen im Labor. Vor allem lernen von Kooperation. Nicht dieser deutsche, akademische Autismus.

Deutschland ist internationales Schlusslicht, was Frauen in den Naturwissenschaften betrifft. Eine Statistik zeigt, wie viele Absolventinnen der Naturwissenschaften auf 100.000 Erwerbstätige im Alter zwischen 25 und 34 Jahren kommen. Das sind in Deutschland 399. Im Durchschnitt der anderen Staaten sind es mehr als doppelt so viele: 834. Länder wie die Türkei, die nicht gerade als frauenfreundlich gelten, bringen es auf mehr als 1.000 Frauen, Spitzenreiter wie Irland und Japan auf mehr als 2.000. Auch bei den deutschen Männern ist der Drang in die Naturwissenschaften schwach. Es muss wohl an einem wenig attraktiven naturwissenschaftlichen Schulunterricht liegen. Ein Indikator dafür, dass unser Bildungssystem mehr auf Abschreckung und Selektion als auf Begeisterung und Teilnahme ausgerichtet ist – Nachfahre einer schwarzen Pädagogik, die immer noch daran glaubt, bittere Medizin sei besonders wirksam.

Zu diesen OECD-Erhebungen passt ein Bericht, den die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung in dieser Woche veröffentlichte. Er sieht auf Deutschland einen „alarmierenden Mangel“ an Fachkräften zukommen, vor allem bei Ingenieuren und Informatikern.

Auch andere deutsche Bildungskurven weisen nach unten. Den Dänen ist ein Grundschüler 6.700 Dollar im Jahr wert, den Deutschen 3.500 Dollar; die Zahlen sind kaufkraftbereinigt, also vergleichbar. Japan und die Schweiz geben fast ebenso viel wie die Dänen aus. Die USA investieren fast 6.000 Dollar pro Kopf in der Primarstufe.

Für alle Länder gilt, dass Lernen Konjunktur hat. Und doch zeigt die Bilanz der Industrienationen, dass der Anteil von Bildung am Bruttosozialprodukt rückläufig ist: von 5,7 auf 5,5 Prozent Prozent in den wirtschaftlich fetten Jahren zwischen 1995 und 1998. Das besorgt die Analysten der OECD, denn unter den ökonomischen Faktoren wie Inflation, Rohstoffe oder Nachfrage geht vom Humankapital die stärkste Wirkung auf das Wirtschaftswachstum aus.

Selbst die Türkei überholt Deutschland, was Frauen in den Naturwissenschaften betrifft

Statistiken können sich nicht dagegen wehren, als Steinbruch zum Absichern unterschiedlichster Positionen genutzt zu werden. Nur für das stärkste deutsche Tabu, den Verzicht auf eine private Beteiligung an den Studienkosten, lässt sich auch beim besten Manipulieren kein Grund finden. In 17 von 21 OECD-Ländern, die speziell ausgewertet wurden, stieg der private Anteil an der Studienfinanzierung um mehr als 20 Prozent. Das Standardargument, Gebühren schreckten ab, wird nirgendwo bestätigt, aber umgekehrt wird durchaus eine Korrelation draus. Überall, wo die private finanzielle Beteiligung wächst, steigen auch die Studentenquoten.

In vielen Ländern wird experimentiert, oft fantasiereich. Dazu gehören andere Kombinationen von Theorie und Praxis, kürzere, aber dafür später fortsetzbare Studienabschnitte und gemischte Finanzierungen. Studiengebühren müssen ja nicht vorab gezahlt werden, sondern können, wie in Australien, später, wenn Akademiker gut verdienen, zurückgezahlt werden. Und wer schlecht verdient, bleibt davon befreit.

Bildung, das machen die Zahlen deutlich, ist ein Geben und Nehmen. Damit haben die Deutschen offenbar die größte Schwierigkeit. Das kleinbürgerliche Syndrom, die Welt schulde einem immer noch was, wer was gibt, ist der Dumme, dieser Geiz wird nun angesichts weltweit lernender Gesellschaften zum „Standortproblem“. Bildung ist eben nicht nur Qualifikation und schon gar nicht staatlich organisierbare Versorgung. Sie ist auch ein Gespräch, ein Selbstgespräch der Gesellschaft und ein Dialog mit der nächsten Generation. Daran vor allem hapert es bei uns. REINHARD KAHL

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