: Brennpunkt Treppe
Von Stockwerk zu Stockwerk zum höheren Bewusstsein: Manil Suri erzählt von Irrungen und Wirrungen in einem indischen Mietshaus – „Vishnus Tod“
von KATHARINA GRANZIN
Was für ein Szenario. Ein Mann stirbt auf der Treppe eines indischen Mietshauses, während die Hausbewohner noch darüber debattieren, wer den Krankenwagen bezahlt. Schließlich wird die Schuld an seinem Tod den muslimischen Nachbarn in die Schuhe geschoben. Eigentlich ein Stoff, der wie geschaffen wäre für ein zorniges Sozialdrama oder zumindest ein anständiges Rührstück. Doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die literarischen Genres. Und so ist „Vishnus Tod“, das Erstlingswerk des in den USA lebenden indischen Mathematikers Manil Suri, vor allem eines: eine Komödie. Die im Übrigen in Aufbau und Durchführung nach der Bühne oder der Kinoleinwand geradezu schreit. Die Handlung kreist um einen Schauplatz: ein Haus in Bombay. Hier leben die beiden Hindufamilien Asrani und Pathak, die muslimische Familie Jalal und ganz oben der verwitwete Mr. Taneja. Der Treppenaufgang wird bewohnt von weniger wohlhabenden Zeitgenossen, die sich gegenseitig für ihr inoffizielles Wohnrecht hohe Ablösesummen zahlen. Einer von ihnen ist Vishnu, ein Alkoholiker, der einen großen Namen trägt. Seit Jahrzehnten bewohnte er einen Treppenabsatz. Jetzt stirbt er dort, und der Krankenwagen, der ihn vielleicht hätte retten können, fährt ohne ihn davon, da niemand die im Falle einer Genesung zu zahlenden Krankenhauskosten übernehmen will. Der sterbende Körper wird zum Brennpunkt für die kleinen und großen Dramen im Leben der Bewohner. Es eskaliert der Dauerzwist zwischen den Asranis und den Pathaks. Die junge Kavita Asrani nutzt derweil die Wirren, um mit dem hübschen Sohn der Jalals durchzubrennen, während Vater Jalal, ein ehemaliger Agnostiker auf Gottessuche, sich neben dem sterbenden Vishnu zur Ruhe bettet, um solcherart zur Erkenntnis zu gelangen. Und so schürzt sich die turbulente Handlung zu einem Knoten – versinnbildlicht im Kopftuch Kavitas, das Mr. Jalal nach einer visionären Nacht im Treppenhaus um den Kopf gewickelt findet – der irgendwann platzen muss.
Die Hindus vereinen sich gegen die muslimischen Nachbarn, und die Komödie wird schließlich – fast – noch zum Drama. Einen versöhnlichen Gegenpol aber gibt es, ausgerechnet, in der Geschichte von Vishnus Sterben. Denn während sein lebloser Körper auf der Treppe liegt, ist Vishnus Seele schon auf dem Weg zur Dachterrasse. Im Steigen wird er immer mehr dem Gott Vishnu gleich und schließlich sanft in ein Zwischenreich vor der nächsten Wiedergeburt überführt.
Dieser religiös-mythologische Teil des Romans steht trotz aller Bemühungen um Anknüpfungspunkte unverbunden neben der sozialen Komödie, die seinen Kern ausmacht. Dasselbe trifft auf die rührselige Geschichte – auch sie ein typisches Filmmelodram – des Mr. Taneja vom obersten Stock zu, der durch die Transzendierung persönlichen Leids auf eine höhere Stufe des Bewusstseins gelangt und so als recht plumper Kontrast zu seinen Hindubrüdern und -schwestern herhalten muss, deren Bewusstsein vom Transzendenten noch mehrere Stockwerke entfernt ist.
So wird dem Roman recht künstlich eine Art Allgemeingültigkeit eingeimpft. Doch Suris Figuren haben es durchaus nicht nötig, sozusagen nachträglich in den Rang symbolischer Gestalten erhoben zu werden. Sie sind wunderbar ironisch gezeichnet und prototypisch genug, um in ihrer kleinen Alltagskomödie hervorragend zu funktionieren. Der Autor tut sich selbst Unrecht, wenn er seiner menschlichen Komödie keine Tragfähigkeit zutraut. Wenn jemand wirklich erzählen kann, dann muss er uns nicht von Göttern sprechen. Es reichen die kleinen Dinge.
Manil Suri: „Vishnus Tod“. Aus demEnglischen von Anette Grube.Luchterhand, München 2001,400 Seiten, 45 DM
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