: Ohnmacht erzeugt Gewalt
betr.: „Gewaltiger Irrtum“, taz Mag vom 23. 6. 01
[...] Jeder, der sich selbst gegenüber ehrlich ist, der sich selbst beobachtet, bemerkt in sich Gewaltfantasien, die man nur dann verarbeiten, reflektieren kann, wenn man sie sich eingesteht. Eine Kultur bleibt infantil, selbstgerecht, verlogen, wenn der Einzelne gezwungen wird, die dunklen Seiten seines Ichs zu verleugnen.
Zu fragen ist primär: Wodurch entstehen Gewaltfantasien? In der Regel dadurch, dass man erniedrigt und gekränkt, dass einem Unrecht zugefügt wird, Unrecht, das so mächtig ist (mächtig zum Beispiel in Gestalt staatlich legalen Handelns, staatlich legal insofern, als der Staat die Macht hat, Unrecht durch Gesetzgebung zu legalisieren), dass derjenige, der es als Opfer erfährt, sich ohnmächtig fühlt. Gewaltfantasien dienen der Kompensation von Ohnmachtsgefühlen. Zwei banale Beispiele: Allein schon die Belästigung von Menschen durch konstanten Fluglärm, von Menschen, die in einer Einflugschneise leben, kann in diesen Menschen die Fantasie hervorrufen, die Flugzeuge mit Raketen abschießen zu wollen. Der Druck, der auf Sozialhilfeempfänger ausgeübt wird, die sich immer mehr beschränken müssen, die sich immer stärker eingeschnürt fühlen, während Politiker sich ständig ihre Diäten erhöhen, erzeugt nicht selten Gewaltfantasien gegenüber diesen Politikern. [...]
Das derzeitige durch Politiker und Medien geschaffene Klima einer Tabuisierung von Gewalt, genauer gesagt, einer Tabuisierung der Reflexion von Ursachen der Gewalt, hat etwas Totalitäres. Es ist totalitär deshalb, weil es sich bis hinein ins Innenleben der Menschen erstrecken möchte, weil es besagt, du darfst noch nicht einmal mehr Gewaltfantasien entwickeln, sondern du musst, was Neoliberalismus, globalisierte Profitgier und andere Abscheulichkeiten dir diktieren, billigend in Kauf nehmen.
Je totalitärer aber Gewalt tabuisiert wird, je mehr eine „Kultur der Wahrhaftigkeit“ verschwindet, um so stärker wird das Potenzial von Gewalt heraufbeschworen. KLAUS BAUM, Hemme
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen