: Karl May für Mädchen
Eine militante amerikanische Moralistin schreibt einen komplett unmoralischen Roman. Eine deutsche Wetterfee bespricht ihn und wird Kult. Ein Autor, der das eigentlich pervers findet, rezensiert. Aufzeichnungen zum Phänomen Sister Souljah
von JOACHIM LOTTMANN
Manche Autoren schreiben Romane, schreiben Briefe, schreiben das Internet voll und die Zeitungen. Sie schreiben Gedichte, singen Lieder, lieben Frauen und geben Geld aus. Sie saugen an ihrem kleinen Leben und dilettieren auf allen kreativen Feldern, lassen nichts unversucht. Nur eines können manche nicht: über andere Autoren schreiben. Sich anmaßend über einen Text erheben. Rezensent sein.
Solch ein Autor war ein Leben lang jener Rezensent, der diese Zeilen schreibt. Und solch eine Autorin war gewiss auch Else Buschheuer, bevor sie im Spiegel über Sister Souljahs „Der kälteste Winter aller Zeiten“ loslegte, jene Geschichte machende Besprechung, die das Buch und auch Else Buschheuer zum Kultthema machte. Tausende klicken seitdem regelmäßig die Site der Pro-Sieben-Wetterfee an, andere sehen seitdem täglich zehn Minuten fern. Die hinreißende Eloge hatte auch mich neugierig gemacht, vor allem auf die schöne Frau, und in den anderen Redaktionen Deutschlands wurden überall weitere Frauen gesucht, die das Buch rezensierten, nach der Art: „Mensch, in der Unterhaltung sitzt doch diese irre Rothaarige, die könnte das doch für uns machen.“ Es war klar, dass Sister Souljah kein Mann besprechen durfte, schließlich handelte es sich um Frauenliteratur, auch wenn es nicht bei Neue Frau, sondern im Haffmans Verlag herauskam.
Dann aber erlebte die Öffentlichkeit einen seltsamen Aufstand verkrachter oder einfach nur ehemaliger Haffmans-Autoren, die unisono behaupteten, der letzte große deutschsprachige Privatverleger zahle zu wenig Honorar. Man las es plötzlich überall. Da mir in der Sache nur das Gegenteil bekannt war und ich gerade wieder einen dicken Scheck von Haffmans im Briefkasten gefunden hatte, rief ich den legendären Gerd Haffmans verwirrt an. „Gerd, was ist da los? Soll ich eine Front gut bezahlter Haffmans-Autoren aufmarschieren lassen? Du weißt, uns Erfolgreichen glauben sie.“ Er winkte entsetzt ab. Ich solle lieber Sister Souljah rezensieren. Man müsse die Antwort auf dem Platz geben, meinte er, und ich solle den Ball flach halten. Letzteres sagte er sogar zweimal. Das war natürlich ironisch gemeint, aber ich verstand es trotzdem. Er wollte mir das Buch zuschicken.
Und so kam es. Auf einmal hielt ich „Der kälteste Winter aller Zeiten“ in den weichen Schriftstellerhänden, sollte darüber schreiben, als Mann. Durfte ich das? Ich merkte sofort, dass es sich um einen brillanten, mitreißenden Tatsachenbericht handelte, alles euphorisierend echt, trotzdem mit Vollgas übertrieben, allerbeste Hochliteratur. Nur: von einer Frau geschrieben. Frauenliteratur. Mir war, als solle Reich-Ranicki über Elfriede Jelinek urteilen. Oder mein Vater für meine Mutter kochen. Das war pervers. Und in meiner Not erinnerte ich mich an eine „Begegnung“ mit Sister Souljah, die vor zehn Jahren stattgefunden hatte. Es gab sie als öffentliche Figur nämlich auch damals schon.
Nici Reidenbach hatte sie entdeckt. In einer Katakombe wohnend mit zwei altersschwachen Katzen, erzählte sie um vier Uhr morgens mitten im kältesten Winter aller Zeiten von ihrer schwarzen Schwester in Brooklyn. Nici sprach Souljah wie „soldier“ aus, und wir, mein Begleiter Roger Thiede und ich, hielten die militante Amerikanerin, die sich angeblich dafür aussprach, endlich weiße Polizisten zu töten, für eine Art rappender Dependance der Baader-Meinhof-Bande. Nici, Alma Mahler der 70er, in den frühen 90ern geheimnisumwittert wie außer ihr nur noch die späte Garbo oder Marlene (die dann auch bald starb), ward an diesem Morgen zum letzten Mal gesehen. Zitternd klagte Nici den Reichtum der Weißen an und den heldenhaften Kampf von Sister Soldier, damals Radioreporterin oder besser -predigerin.
Begleiter Roger, damals Botho-Strauß-Verehrer und somit auf der schwarzen Liste des seinerzeit noch linken Kulturbetriebs, hielt Nici entgegen: „Du bist weiß und lebst in einem Kellerloch. Deine Katzen essen das letzte Nutella weg. Ich lebe ebenso. Wir sind weiß und engagiert, aber wir leben nicht im Reichtum.“ Wir hörten Kampf-CDs Sister Souljahs, verstanden aber nur Hass und Rechthaberei. Kurz kam die junge Schwarze als Stimme von Public Enemy zu einigem Ruhm. Niemand konnte ahnen, dass ausgerechnet diese knallharte Person einmal den humorvollsten Roman schreiben würde, der je aus dem Ghetto kam. Und den rasantesten dazu.
Was ist die Story? Das Leben von Sister Souljah? Das genaue Gegenteil! Hauptfigur ist eine junge Schwarze, die gerade nicht politisch korrekt lebt. Die sich eher mit Botho Strauß als mit Nici verstehen würde. Die keine Schulprogramme für Schwarze fordern würde, sondern für Weiße, denn über Lehrer denkt sie nicht gerade positiv: „Ich folgte dem Prinzip, nur gerade so oft zur Schule zu gehen, daß ich nicht rausflog. Wenn ich mit neuen Klamotten oder neuem Schmuck angeben wollte, alles klar, aber ich würde nicht jeden Tag in der Schule antreten, als sei es mein Job, solange ich nicht dafür bezahlt wurde. Schule war wie Prostitution. Ich soll zur Schule kommen, damit die Lehrer dafür abkassieren können, daß sie mich kontrollieren.“
Tja, so die Hauptfigur, ein 16-jähriges Ghettomädchen namens Winter. Keine Frage, dass die Autorin da eigentlich eine andere Meinung hat. Irgendwie muss sie, die Autorin Sister Souljah, aber zeitlebens den Traum gehabt haben, einmal so ein richtiges Arschloch zu sein, eine bitch, ein weiblicher James Bond, ein früher Alain Delon, ein eiskalter Engel, der fickt und shoppt, gut aussieht, hoch aggressiv gegen alles und jedes agiert, sich nie etwas sagen lässt und dabei das Hirn eines Suppenhuhns hat. Von allem ist Sister Souljah wahrscheinlich das Gegenteil. Der Wunsch, so richtig schön böse und blöde zu sein, ein Crossover von Verona Feldbusch und Schumis Boxenluder, muss so übermächtig gewesen sein, dass jeder Satz der eng bedruckten 422 Seiten wahrer und stärker wirkt als die reale Existenz der Autorin selbst.
Dieses Wunschbild, früher sagte man Alter Ego, fasziniert nicht nur die Autorin, sondern erst recht den Leser. Man ist hingerissen von der Vitalität, den vielen Facetten, der Durchschlagskraft der Hauptfigur – so viel Authentizität kann sich doch keiner ausdenken. Es ist, als könne der geliebte Hund plötzlich sprechen, der plappernde Sittich seine kognitiven Strategien äußern, mit der Sprachkraft eines Flaubert (oder sagen wir lieber eines Chandler, eines Carver), und dennoch so doof und sinnlich bleiben wie eine rollige Katze bei Vollmond.
Man kennt ja übrigens diese Welt aus den MTV-Musikclips. Jeder hat sie bis zum Erbrechen oft gesehen, die fetten Limousinen, die ebenso fetten Dealer mit ihren lächerlichen Goldzähnen, Glatzen und Sonnenbrillen, dazu die geilen Schlampen, die sich immer räkeln wie Raupen, während die Typen in die Kamera schimpfen. Eine abscheuliche Staffage, ein widerliches Personal. Als die Kinder einmal weinend ankamen, weil Jutta den falschen Kanal eingestellt hatte („Mami, warum schimpfen die Schwarzen dauernd so?“), wurde mir klar, dass sich nur schlechte Menschen von so was angezogen fühlen können.
Wirklich? Überrascht uns das Leben nicht immer wieder mit Paradoxien auf allen Ebenen? Eine militante Moralistin schreibt einen komplett unmoralischen Roman und ist damit besser als mit allem, was sie vorher tat. Und „besser“ kann in der Literatur nur heißen: aufklärerischer, erhellender, klug machender. Selbst der naive Abiturient vom Gymnasium Neumünster hat nun ein zutreffendes Bild vom Innenleben dieser ganz anderen Welten, drüben in Amerika, bei den Schwatten, nech. Er wird reicher. Eine zusätzliche Dimension zieht in seinen bis dato arglosen Schädel ein. Man stelle sich vor, es gäbe solch ein Buch über ihn und New Yorker Ghettokids würden es lesen ...
Vertiefen wir nicht diesen traurigen Gedanken. Überlegen wir lieber, was die MTV- und Ghettokultur mit unseren deutschen Kindern macht und was dieses Buch daran ändern könnte. Tatsache ist: Nahezu hundert Prozent der 15- bis 17-jährigen Mädchen folgen hierzulande den Role-Models der schwarzen HipHop-Girlies, also bauchfrei, frech, schnippisch, aufgebrezelt, wortkarg, cool, brutalstmögliche Ausstrahlung von Sex bei gleichzeitiger völliger Meinungslosigkeit.
Ihre zubetonierten Visagen scheinen nur einen Gedanken zu kennen: „Hey, du kannst mich haben, denkst du, du Sackgesicht – mit den Turnschuhen?!“ Sie scheinen nur auf die unvermeidlichen Polizeisirenen zu warten und den nächsten Schusswechsel. Sie sehen gesichts- und geschichtslos aus wie Jennifer Lopez und sind noch dümmer als Janet Jackson. Vor allem aber sind sie todunglücklich. Weil dieses Role-Model in keinster Weise zu ihnen passt. Weil es keinen größeren Unterschied gibt als den zwischen diesem äußerlichen Getue und ihrer inneren Wahrheit.
Wenn solche fehlgeleiteten, in Wahrheit ganz lieben und geschichtsbeladenen Menschen lesen, wie es wirklich aussieht im Kopf einer kleinen Brooklyn-Nutte, bekommen sie Kontrolle über den Vorgang. Sie werden das Leben zwischen Cops, Crack und Prostitution zu unterscheiden lernen von ihrem als Holocaust-Nachgeborene im bedächtigen, hochanständigen Schröderstaat. Und an der brodelnden Gangstawelt nun erst recht ihren Spaß haben. Wie früher Jungs, wenn sie „Durchs wilde Kurdistan“ lasen. Die sind dann ja auch nicht mit der nachgebauten Donnerbüchse in den Matheunterricht gekommen.
Wie auch immer: Es gibt endlich Abenteuerbücher für Mädchen. Für kleine und große. Große wie Else Buschheuer, die als Kind bestimmt darunter litt, dass bei Karl May alle Helden männlich waren. Nun ist sie selbst eine Heldin, als deutschlandweite Fetterfee. Sie ist die erste Kultautorin, die auch noch einen anständigen Beruf hat. Und wir wissen ja: Es waren nicht die schlechtesten Mädchen, die auch Karl May lasen. Vielleicht sind es auch nicht die schlechtesten Männer, die Frauenromane rezensieren.
Sister Souljah: „Der kälteste Winter aller Zeiten“. Aus dem Amerikanischen von Juliane Zaubitzer. Haffmans Verlag, Zürich 2001, 416 Seiten, 39 DM
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