: Tschetschenen wieder abschiebbar
Innenministerium hebt Entscheidungsstopp über Asylanträge von tschetschenischen Flüchtlingen auf. Jetzt wird über jeden Einzelfall entschieden. Grüne: Immer noch massive Menschenrechtsverletzungen. Abschiebeschutz muss bestehen bleiben
von LUKAS WALLRAFF
Tschetschenische Flüchtlinge, die in Deutschland untergekommen sind, werden nicht mehr grundsätzlich vor Abschiebung geschützt. Wie ein Sprecher von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gestern gegenüber der taz erklärte, muss jetzt wieder „über jeden Einzelfall entschieden werden“. Das war bis vor kurzem noch anders: Wegen der unklaren Lage hatte das Innenministerium einen „Entscheidungsstopp“ für Asylanträge von TschetschenInnen verfügt. Dieser wurde jetzt aufgehoben.
Wenn die Flüchtlinge nachweisen können, dass sie politisch verfolgt werden, können ihre Anträge jetzt anerkannt werden und sie erhalten einen gesicherten Aufenthaltsstatus – ein Fortschritt. Wenn tschetschenische Flüchtlinge aber die strengen Kriterien des deutschen Asylrechts nicht erfüllen, droht ihnen die Abschiebung – davor waren sie bisher geschützt.
Die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft schätzt, dass sich derzeit „etwa ein- bis zweitausend“ TschetschenInnen in Deutschland aufhalten. Nach Angaben des Innenministeriums haben bis Mitte Mai „1.650 Russen tschetschenischer Volkszugehörigkeit“ einen Antrag auf Asyl gestellt.
Laut Schilys Sprecher wurde der Entscheidungsstopp nun „auf Grund eines Berichts des Auswärtigen Amtes“ aufgehoben. Eine Maßnahme, für die die Gesellschaft für bedrohte Völker keinerlei Verständnis hat. Ihr Chef Tilman Zülch warf der Bundesregierung gestern eine „eiskalt berechnete Kollaboration mit dem Täterregime in Moskau“ vor. „Jetzt sollen Opfer auch der deutschen Russlandpolitik in die Hände ihrer Verfolger zurückgeschoben werden.“ Zülch befürchtet, dass Asylanträge abgelehnt werden, obwohl Tschetschenen in Russland „nach wie vor und überall mit staatlicher Verfolgung rechnen müssen“.
Kritik kam auch aus der Koalition: Der grüne Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, Helmut Lippelt, sagte der taz, wegen der unklaren Situation müsse der Abschiebeschutz bestehen bleiben. Wenn die neue Direktive des Innenministeriums bedeute, dass künftig wieder abgeschoben werden könne, sei dies eine „Katastrophe“ und zeuge von „völliger Unkenntnis der immer noch massiven Menschenrechtsverletzungen“.
Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, hält die Aufhebung des Entscheidungsstopps dagegen „im Prinzip“ für richtig. „Wir sind grundsätzlich dafür, dass man Entscheidungen trifft“, sagte ihr Sprecher der taz. Die Betroffenen erhielten dadurch Rechtssicherheit. Er glaubt, dass die meisten tschetschenischen Flüchtlinge mit einer Anerkennung rechnen können und traut den Behörden auch „genug Sensibilität beim Thema Tschetschenien“ zu.
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