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Mehr als ein Abenteuer

Ungelesene Weltliteratur: Ein Feature des Freien Sender Kombinats widmet sich Herman Melvilles „Moby Dick“  ■ Von Ole Frahm

Ungelesene Weltliteratur braucht Förderung. Moby Dick ist eines der bekanntesten dieser vernachlässigten Werke. Filme, Comics, gekürzte Fassungen haben die Handlung des Romans – die Jagd des weißen Wals durch den wahnwitzigen Kapitän Ahab – zu einem nicht nur in der Jugendliteratur geläufigen Abenteuermotiv gemacht und sehr schöne Brücken gebaut, die zur Lektüre des Wälzers führen könnten. Vergebens. Heute um 14 Uhr öffnet Doro Wiese im Freien Sender Kombinat (FSK) einen akustischen und intellektuellen Zugang zu diesem Wälzer, der dessen LeserInnenschaft vergrößern sollte.

Förderung ungelesener Weltliteratur ist kein Selbstzweck. Das Feature Moby Dick. Bekenntnisse eines Fans verortet Herman Melvilles Roman in den Diskursen seiner Zeit. Wiese legt dar, wie dieser mit seinem Walmotiv die scheinbar „objektivierenden Betrachtungsweisen“ der Aufklärung listig parodiert, zum Beispiel Johann Lavaters Physiognomie, die vom Gesicht oder Profil den Charakter eines Menschen systematisch ableitete, oder die Phrenologie, mit der eine Verbindung von Schädelbau zur geistigseelischen Veranlagung gezogen wurde. Die heute zum größeren Teil als irrig angesehenen Wissenschaften sind deshalb bedeutsam, weil ihre Vermessungen von Schädeln und Kategorisierungen wie „je moralisch besser, desto schöner“ (Lavater) die rassistischen Diskurse der Moderne strukturierten. Heute mögen wir darüber lachen, wie sich diese Pseudowissenschaften etablieren konnten, angesichts der Fetischisierung der Genetik als „objektivierende Betrachtungsweise“ des Menschen ist das aber gar nicht so witzig. Mel-villes verfehlende Nachahmung solcher Wissenschaften rettet literarisch die lachende Distanz. Den LeserInnen gekürzter Fassungen entgeht der erkenntniskritische Wert des Moby Dick, denn der artikuliert sich in den Exkursen des Romans, die in der Sendung von Jochen Heuck so brillant vorgelesen werden, dass es eine und einen unweigerlich nach mehr verlangt.

Doro Wiese belebt in ihren Bekenntnissen das im Rundfunk nahezu vergessene Mittel des Features gelungen wieder. Damit bestätigt sich ein weiteres Mal eine Tendenz, die lokales, nicht-kommerzielles Radio und damit das FSK in Hamburg ermöglichte. Denn freie Sender übernehmen heute manche Funktion öffentlich-rechtlicher Anstalten der fünfziger bis siebziger Jahre, die Grundversorgung an Auseinandersetzung mit Kultur beispielsweise. Längst gibt es genug akademisches Proletariat, das bereit ist, wegen eines Interesses und der guten Sache umsonst zu arbeiten. Selbstbewusst organisiert es sich in autonomen Strukturen, die stolz verkünden, dass sie für ihre inhaltliche Arbeit kein Geld ausgeben, als sei ihre Finanzierung notwendig und der einzige Feind der Kopfarbeit.

Diese Reaktion auf die Etablierung einer intellektuellen, heute staatstragenden Klasse seit den späten Sechzigern ist im schlechten Fall wirkungslose, aber ruhigstellende Selbstausbeutung, im besten kommt ihr organisierende Funktion für das akademische Proletariat zu und ermöglicht darüber hinaus eine mobilisierende Kritik, die im öffentlich-rechtlichen Radio niemals möglich war.

So bei Doro Wiese. Formal mag ihr Feature altbekannt klingen – eine Sprecherin, zwei Stimmen für die unterschiedlichen Zitate, Pausen durch Lieder –, schon musikalisch grenzt es sich aber streng vom Sound öffentlich-rechtlicher Kulturbehäbigkeit ab und unterstützt damit die inhaltlich neu gewonnene Perspektive nicht nur auf Moby Dick, sondern auf den Umgang mit Literatur selbst, auf ihre Politizität. Warum allerdings der Roman mit seiner parodistischen Haltung nach einem Wort des Comic-Wissenschaftlers Thomas Inge sich tief im „nationalen Bewusstsein“ der USA verankerte, muss in weiteren Folgen noch ergründet werden.

Moby Dick. Bekenntnisse eines Fans. Teil 1: Die Revolte des Herman Melvilles: heute, 14 Uhr, FSK (93,0 Mhz/Kabel 101,4)

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