Respekt vor dem Durchmarschierer

Wenn es gilt, das Blatt zu wenden, hilft auch bei einer Runde Skat im Senat das doppelt verdrehte Ramschprinzip

Kaum hatte das Spiel begonnen, da donnerte er die vermeintlich schlechten Karten auf den Tisch

Es sind die Dinge, die niemanden etwas angehen, die alle interessieren, allem voran mit dem Geschlechtstrieb verbundene Ereignisse. Dabei geben unscheinbare Gewohnheiten, die nur wenig mit dem Triebleben verbunden sind, oft weit mehr Auskunft über das Geistesgefüge der Spezies des abendländischen Menschen in seiner posthabermauselnden Variante. Zum Beispiel das Skatspiel. Speziell das Ramschen, eine proletarisch-rebellische Variante, die den devoten Gestus des Skatsports samt seines bürokratischen Regelwerks trefflich persifliert. (Für Nicht-Skatspieler: Beim Ramschen ist derjenige, der die meisten Punkte kriegt, sozusagen das meiste Kapital akkumuliert, nicht Sieger, sondern Verlierer.) Die übliche und erfolgreichste Taktik beim Ramschen ist diejenige, zuerst einmal alles Übel auf den Tisch zu legen, all das Unbill, das früher oder später nicht vermieden werden kann, gleich zu Anfang auf sich zu nehmen. Denn wer erst als Letzter mit seinen Lasten rausrückt, kriegt zur Strafe noch die fette Beute des Skats, nebst Hohn und Spott der gesamten Runde samt der Kiebitze.

Doch weil dies noch immer zu einfach ist, gibt es eine nochmals verdrehte Variante, die Persiflage der Persiflage: den Durchmarsch. Hier tut der Durchmarschierende zunächst so, als wolle er sich im Ramsch nur seiner Lasten entledigen, damit ihm die Kollegen noch kräftig buttern, um dann allen eine lange Nase zu zeigen, wenn er schließlich sämtliche Stiche kassiert. Denn nun ist er nicht der Trottel mit dem faulen Kapital, weil in diesem Fall die Ramschregel (Verlierer ist der mit den meisten Punkten) außer Kraft ist. Nun hat er den Durchmarsch geschafft, der Triumph gehört allein ihm, nun lacht er und lässt keinen Zweifel daran, die Kumpel an der Nase herum geführt zu haben. Dass er zunächst geheuchelt hat, er wolle sich von seinen Lasten befreien, um schließlich die angeblichen Lasten in Pfründen zu verwandeln und damit zu wuchern, nimmt ihm keiner mehr übel, weil er nun das Ganze als Spielvariante auflöst. Die Gegner sind ihm nicht gram, sie zollen ihm Lob für die Chuzpe, die so ein Durchmarsch erfordert.

So einer ist der Herr Wowereit in Berlin, ein Ramscher und Durchmarschierer. Kaum hatte das Spiel begonnen, da donnerte er die vermeintlich schlechten Karten mit Getöse auf den Tisch: „Ich bin schwul, ich bekenne!“ (Wo wir wieder bei den Dingen wären, die niemanden etwas angehen, aber alle interessieren.) „Brav!“, rufen da alle, und: „Bravo! Wie ehrlich er doch ist“, oder: „Wie mutig.“ Keiner wunderte sich darüber, dass jemand private Dinge in die Welt hinaus posaunte. Wowereit war für alle der Held, der lange die Last geschleppt hatte, bis er sie endlich auf den Rampen der Massenmedien ablud, ehrlich, mutig, verletzlich. Jetzt ist er erster Bürgermeister von Berlin. Und alle mögen ihn.

Das ist gut so, ein Sieg über Spießigkeit und Doppelmoral. Doch nur passionierte Skatspieler merken, dass er alle mit einem Durchmarsch genarrt hat. Wowereit wusste, dass die vermeintliche Last ein Trumpf war, er wollte die Last gar nicht los werden, sondern den Gegnern ihre Pfunde aus den Taschen leiern, damit sie seinen Durchmarsch nicht mehr gefährden konnten.

Das hat geklappt: Ein Sieg des Skats über die Politik.

JOACHIM FRISCH