radikale musikpädagogik:
von KARL WEGMANN
Nora ist acht Jahre alt und findet Britney Spears ganz toll. Sie mag auch die Back Street Boys, ein paar von diesen anderen Toy-Groups und außerdem Käpt’n Blaubär. In der Schule, im Musikunterricht, belästigt man sie mit deutschem Liedgut und dessen korrekter Wiedergabe. Nora glotzt lieber MTV und nötigt ihren Papa, ihr eine Bauchkette zu kaufen. Ihr Papa ist Willy, und der sagt „na gut“. Willy weiß, dass man mit Verboten nichts erreicht. Das mit Käpt’n Blaubär ist für ihn zwar völlig okay (er ist selber Fan) aber der Musikgeschmack seiner Tochter geht ihm doch ziemlich an die Nieren. Schließlich weiß man ja, wo das alles hinführen kann: Mit zehn hört das Töchterchen deutschen HipHop, mit zwölf norwegischen Todesmetall und mit dreizehn will sie zur Love Parade. Das muss unbedingt verhindert werden – selbstverständlich ohne Zwang.
Willy steht auf handgemachte Musik und auf Neil Young. Nora ist mit Neil Young aufgewachsen. Morgens Neil Young, mittags Neil Young und abends Neil Young. Nora kennt jede Platte, sie weiß, wo Neil Young wohnt, sie weiß, wie seine Frau heißt, und sie weiß, dass dieser Büffel, der in „Der mit dem Wolf tanzt“ so eindrucksvoll erschossen wird, aus der Zucht von Neil Young stammt. Nora ist Expertin – trotzdem konnte das Britney Spears und die Plastik-Mucke nicht verhindern. Willy hat deshalb schon vor langer Zeit beschlossen, dass das erste Konzert, das seine Tochter besuchen würde, eins von Neil Young sein würde.
Zuletzt war der Dreamer of Pictures 1996 in Deutschland unterwegs. Nora war damals drei Jahre alt und ihre Mutter Marlies intervenierte erfolgreich. Aber jetzt, jetzt ist sie acht, jetzt ist sie reif. Willy kauft Tickets für die ganze Familie, Bustour zur Arena nach Oberhausen, Sitzplätze ganz vorne. Ankunft kurz vor acht. Leider liegt der Merchandising-Stand auf dem Weg. Nora will ein T-Shirt. Die gibt’s aber nur in L und XL. Egal, ein Kleid für 50 Mark ist in Ordnung. Dann die Halle. Zehntausend Menschen. Nora ist sichtlich beeindruckt. Marlies friemelt ihr noch schnell Stöpsel in die Ohren, da geht schon das Licht aus und die Black Crows lärmen los. Tierisch laut, Nora gerät in Panik und Willy schafft sie ganz schnell raus. Eine große Cola und eine Bratwurst beruhigen den minderjährigen Musikfan. Nach Vorprogramm und Pause – Nora trägt inzwischen ihr neues Kleid – warten alle zusammen gespannt auf den Meister und seine verrückten Pferde. Es geht los, und es klappt: Nora strahlt bei jedem Song, den sie wiedererkennt, und sie kennt fast alle. Willy denkt noch kurz, „verdammt, Bob Dylan ist vier Jahre älter und hat noch volles Haupthaar – und Neil Young hat einen Cowboyhut“, genießt aber dann das Konzert und den Anblick seiner Tochter.
Vor der Abfahrt des Busses, beim letzten Bier, fragt Willy erwartungsvoll: „Na, wer ist besser – die olle Britney oder Neil Young?“ Nora lächelt geheimnisvoll. Sie ist umgeben von angetrunkenen, beinharten Neil-Young-Fanatikern und klug genug, nicht zu antworten. Hat also doch funktioniert, die radikale Musikpädagogik.
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