Wahn als Waffe

Vom Verfall einer ehemals kritischen Institution: Das Russell-Tribunal tagt in Berlin und verhandelt Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie

Die heutige Psychiatrie,so die Anklage,ist im Kern mit Nazi-Praktiken vergleichbar

von MARTIN ALTMEYER

Das Russell-Tribunal on Human Rights in Psychiatry begann verspätet, und es fand, anders als vorgesehen, nicht in der Freien Universität Berlin statt. Verantwortlich dafür, so berichtete Jurymitglied Wolf-Dieter Narr, dort als Hochschullehrer tätig, sei die Intervention einer Kollegin, die als Klinikdirektorin der geplanten Veranstaltung bescheinigt habe, „finsterer antipsychiatrischer Ideologie verhaftet“ zu sein und dem Ansehen nicht nur einer modernen Psychiatrie, sondern auch der FU insgesamt zu schaden. Ihr Brandbrief war in dekuvrierender Absicht auf einer Flugblattcollage faksimiliert, das unter der Überschrift „Wissenschaftler damals, Wissenschaftler heute“ auch den für seine Menschenversuche berüchtigten Nazi-Arzt Josef Mengele abbildete.

Mit der FU hatte das Tribunal damit seine erste Angeklagte, und auch der Tenor der Anklage war mit diesen Verknüpfungen durchsetzt: Die heutige Psychiatrie stehe in der Tradition der unmenschlichen NS-Medizin. Der emeritierte Psychiatrieprofessor Thomas Szasz, der die Anklage vertrat und den Begriff der psychischen Krankheit seit 30 Jahren für eine medizinische Fiktion im Dienste sozialer Kontrolle hält, brachte seine Auffassung auf den Begriff: „Alle Psychiater lieben Kontrolle, und Kontrolle führt zu Mord!“ Nicht zufällig seien Euthanasie und Eugenik im Nationalsozialismus nicht von einfachen Ärzten, sondern von mörderischen Psychiatern betrieben worden: Diese hätten schließlich jahrhundertelange Erfahrung mit Unfreiheit und gewaltsamer Unterdrückung. Den vorsichtigen Einwand eines Jurymitglieds gegen diese abstruse Entlastung der nichtpsychiatrischen Ärzteschaft und die Frage, ob die Nazis weniger Menschen umgebracht hätten, wenn es keine Psychiater gegeben hätte, wies der mit anklagende Rechtsprofessor George Alexander, der in Personalunion zugleich die Verhandlung führte, als irrelevant zurück.

Schon das begriffliche Zusammenbringen von Menschenrechten und Psychiatrie – so die Juryvorsitzende Kate Millet – beinhalte einen Widerspruch in sich selbst, weil die Psychiatrie an sich eine Menschenrechtsverletzung darstelle. Sie verstoße, wie es in der Anklageschrift heißt, bereits in ihren Grundprinzipien gegen die UN-Menschenrechtserklärung: Ihre beiden Säulen seien Zwangseinweisung und strafrechtliche Entmündigung; sie diene als Waffe in der Hand von Staat und Familie, um unerwünschtes Verhalten zu diskriminieren, Personen mit abweichendem Verhalten zu stigmatiseren und sie gefügig zu machen. Ihr Charakter als Folterwerkzeug werde nur dadurch verdeckt, dass sie sich als Behandlung von Krankheiten ausgebe und eines medizinischen Vokabulars bediene. Aus all diesen Gründen müsse die Psychiatrie, nachdem sie sich zu ihren „Gräueltaten in der Vergangenheit und heute“ bekannt habe, „die Unterstützung und Teilhabe der Profession daran . . . beenden“. Wahrlich ein radikaler Kritikansatz, der für Reformpsychiatrie keinen Raum ließ und für deren Repräsentanten deshalb auch keine Möglichkeit der Verteidigung vorgesehen hatte.

Wer nun von der Zeugenvernehmung den versprochenen Nachweis dieser Kontinuität des Grauens und zuverlässige Anzeichen dafür erwartet hatte, dass es sich beim zeitgenössischen System der psychiatrischen Versorgung um eine einzige Menschenrechtsverletzung handele, sah sich mit zunehmender Dauer des Verfahren eines anderen belehrt. Der erste Tag gehörte weitgehend den bedrückenden Schilderungen von Naziopfern, die ihre traumatischen Erfahrungen in Kinderheimen, Internierungslagern und Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie berichteten, Einrichtungen also, die der Selektion und Vernichtung von so genanntem unwertem Leben gedient hatten. In diesen erschütternden Berichten zeigten sich zwar auch die Verdrängungsgeschichte der Nachkriegszeit und der Widerstand der Schuldigen gegen die Benennung und Aufdeckung ihrer Verbrechen – aber sie belegten nicht den Vorwurf der Anklage, die Theorien, Behandlungsformen und Funktionen der heutigen Psychiatrie seien im Kern den NS-Praktiken vergleichbar und deren strukturelle Fortsetzung in anderer Gestalt. Zweifel an dieser These, von einigen Mitgliedern der Jury angemeldet, wurden mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass es damals wie heute nicht um medizinische Diagnose und Therapie, sondern um Stigmatisierung, Ausgrenzung und Unterdrückung ging, um ein menschenfeindliches Spiel der Macht und nicht um eines der hilfreichen Versorgung von Patienten.

Die weiteren Zeugen, erfahrene Ankläger des gegenwärtigen psychiatrischen Systems, demonstrierten auf der Bühne des Tribunals, dass es sich bei schweren seelischen Störungen nicht einfach um Zuschreibungen der Gesellschaft, sondern um tiefe Irritationen im Verhältnis zu sich und der Realität, um fatale Verzerrungen der Selbst- und Weltbeziehung handelt. Mordandrohung und Mordversuch im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, die Bedrohung der Ehefrau durch die Manipulation von Elektroleitungen, akute Suizidgefährdung im Zustand existenzieller Verzweiflung, paranoide Verfolgungsängste und grandiose Selbsteinschätzungen, all das wurde in den Berichten erkennbar, lassen sich eben nicht in einem dichotomen Weltbild unterbringen, wo das Gute innen und das Böse außen ist.

Dass die Zeugen das tun, kann man ihnen nicht vorwerfen; dass etliche von ihnen aus dem Kampf gegen die Psychiatrie eine Lebensaufgabe gemacht haben, lässt sich als eine besondere Form der Traumabewältigung verstehen; dass zwei der Zeugen sich zur Psychiatriekritik von Ron Hubbard bekannten und auf entsprechenden Kongressen der Scientologen auftreten, ist ihr gutes Recht. Dass aber die urteilende Jury sich auf diese Weise ihr eigenes Weltbild meint bestätigen zu können, bedeutet einen Missbrauch von Patienten, den dieses Tribunal der angeklagten Psychiatrie vorwirft – und ist vom Zynismus einer Praxis nicht weit entfernt, mit dem die Universitätspsychiatrie einst ihr Fallmaterial den Studenten im Hörsaal vorführte. Das Russell-Tribunal erinnerte in nichts mehr an die humanistische Tradition, die mit der Untersuchung der Verbrechen im Vietnamkrieg einmal begonnen hatte.