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Talk im Turm

Ohne Larmoyanz: In der „Kulturinitiative 89“ wird die Transformation der ostdeutschen Teilkultur diskutiert

Der Ausblick auf die Stadt ist fantastisch. Brandenburger Tor und Lichterberger Bahnhof scheinen zum Greifen nah. Autos und Passanten auf der Karl-Marx-Allee sind auf Ameisengröße geschrumpft. Jeden zweiten Mittwoch im Monat trifft sich hier in luftiger Höhe ein Debattierklub der besonderen Art. Die „Kulturinitiative 89“ lädt zu Gesprächskreisen rund um ein Thema ein: die Ostdeutschen. „Zwei deutsche Kulturen?“ war die letzte Veranstaltung überschrieben. Passend dazu mahnte vor Beginn ein älterer Herr den taz-Schreiber, auf die ehemalige Stalin-Allee weisend, „doch mal zu schreiben, dass die DDR nicht nur Scheiße gebaut hat“.

Drinnen hat derweil der Vortrag begonnen. Professor Mühlberg berichtet auf nonchalante Art von seinen Beobachtungen zum kulturellen Assimilationsprozess, den die Ostdeutschen seit 1990 bei ihrem Übergang in ein anderes Gesellschaftssystem durchlebten. „Die Dauerhaftigkeit der ostdeutschen regionalen Teilgesellschaft voraussetzend“, fragt der Kulturwissenschaftler, „ob es sinnvoll ist, die überkommenen und neu gebildeten kulturellen Eigenheiten als Elemente einer sich bildenden deutschen Teilkultur anzusehen?“.

Tendenzen in einigen Bereichen, so in Mustern des Alltagsverhalten und kommunikativen Institutionen der Ostdeutschen, legen den Schluss nahe, dass man durchaus von einer ostdeutschen Teilkultur sprechen könne. Dietrich Mühlberg führt Liedtexte von Grönemeyer oder junge ostdeutsche Autoren wie Thomas Brussig an, die sich anders als die Alten mit der DDR-Vergangenheit auseinander setzen: „Mit Ironie und frei von Larmoyanz.“

Gleiches lässt sich auch von den Ausführungen des Professors, der im Potsdamer Zentrum für zeithistorische Studien arbeitet, sagen. Sein Koreferent Rudolf Woderich vom Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien e. V., der Gegenbeweise für Mühlbergs Thesen liefern sollte, blieb jedoch langweilig. Gut, dass die Aussicht vom Turm Ablenkung bietet.

In der Diskussion ging es dann aber wieder hoch her. Man forderte, lieber die Gemeinsamkeiten von Ost- und Westdeutschen als die Unterschiede zu diskutieren. Allein wegen solcher Diskussionsrunden lohnt der Debattierklub der „Kulturinitiative 89“. Das liegt wohl daran, dass im Publikum auch jüngere, streitbare Geisteswissenschaftler sitzen. Als Gesellschaft für demokratische Kultur im Herbst 1989 gegründet, war zunächst die Erneuerung der DDR-Kultur das Ziel. Nun steht die Debatte über den Transformationsprozess aus kulturwissenschaftlicher Sicht im Vordergrund.

Nächstes Mal referieren Ina Merkel (Universität Marburg) und Franziska Becker (Humboldt-Universität) über „Typisch deutsch“. Der Talk im Turm auf Ostdeutsch geht meist gegen 22 Uhr zu Ende. Dann wird oft bei einem Bier weiter diskutiert. Die Sonne geht derweil rot im Westen unter. ANDREAS HERGETH

Infos unter www.kulturinitiative-89.de. Nächster Gesprächskreis am 11. Juli

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