: Der Eierwurf – ein Wendepunkt?
Beim Wahlkampfauftakt der Berliner CDU auf dem Alexanderplatz ging die Bundesspitze der Union im Eierhagel unter. Nun stellt sich die Schuldfrage. Teile der CDU machen die Jusos verantwortlich. Die SPD weist das zurück
von PATRIK SCHWARZ
Als alles schon vorbei ist – Angela Merkel und Edmund Stoiber geflüchtet, die Bühne abgeräumt, die Polizei wieder in ihre Mannschaftswagen eingerückt – bleibt auf den Betonplatten am Alexanderplatz eine blaue Plastikflasche zurück, zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Zwei Zivilbeamte stehen breitbeinig davor. Bewachen sie das Corpus Delicti? Warten sie auf die Spurensicherung? Der eine Beamte grinst. Nee, nee, die Flasche, die liege da nur so rum.
Keine halbe Stunde zuvor, am Montagabend gegen halb acht, traf eine halb gefüllte Plastikflasche mit beträchtlicher Wucht die kleine Bühne der CDU auf dem Alexanderplatz. Da war bereits ein knappes Dutzend Eier geflogen, der Strom der Mikrofonanlage gekappt worden, und der Berliner Spitzenkandidat der Union, Frank Steffel, versuchte vom Bühnenrand mit zornesrotem Kopf gegen die Menge anzuschreien: „. . . dass die Polizei sicherstellen muss . . . dass wir für Einigkeit und Recht und Freiheit . . .“ Als dann noch die Flasche fliegt, drängt ein Einsatztrupp der Bereitschaftspolizei die Politiker überstürzt von der Bühne.
Stoiber und Steffel brausen in einem Zivilbus der Polizei quer über den Alex davon, ein Kameramann stürzt zu Boden. Hat sich da nur ein Zufallstäter eine herumliegende Flasche gegriffen – oder handelte es sich um eine vorbereitete und gezielte Aktion gegen die CDU?
Diese Frage spielt seit Montagabend eine nicht unerhebliche Rolle im wichtigsten Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2002. Oben auf der Bühne stand schließlich nicht nur der örtliche Spitzenkandidat Frank Steffel, sondern mit Merkel, Stoiber, Unionsfraktionschef Friedrich Merz und seinem CSU-Kollegen Michael Glos auch die versammelte Bundesspitze der Union. Seit zwei Wochen trommeln Christdemokraten aus Land und Bund gegen die Zusammenarbeit von SPD und PDS in der Stadt. Bisher klang die CDU mit ihren antikommunistischen Beschwörungen aus Berliner Frontstadttagen bestenfalls antiquiert. Seit Montagabend hat sie alle Gelegenheit – und manchen Grund –, sich als Opfer eines Angriffs zu präsentieren.
Von der CDU hängt nun zu einem wesentlichen Teil ab, wem sie die Schuld an dem chaotischen Ende der Veranstaltung vom Alex gibt. So wie die Mediendemokratie funktioniert, muss die Partei binnen 24, bestenfalls 48 Stunden eine sehr politische Entscheidung treffen: Gibt sie Sozialdemokraten und Sozialisten die Schuld für den Angriff?
Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Mitglieder der SPD-Jugendorganisation haben auf der CDU-Kundgebung Flugblätter verteilt. Die CDU-Bundestagsabgeordneten Paul Breuer und Günter Nooke, die in der Menge standen, sprachen nach dem Eklat davon, dass „aus den Reihen“ der Jusos die ersten Eier geflogen seien. Sie ließen aber offen, ob die Eierwerfer selbst Jusos waren. Mitglieder des Berliner Juso-Landesvorstandes, die auch nach dem Polizeieinsatz noch auf dem Platz diskutierten, bestritten jede Beteiligung heftig.
Eine objektive Klärung, wer den Krawall auslöste, dürfte doppelt schwierig sein: Nicht nur gab es in der Menge ein stetes Kommen und Gehen, es fehlte auch eine nennenswerte Zahl von Polizisten, die eventuelle Angreifer hätten ausmachen können. So dürfte es schwer sein, Vorwürfe der Union glaubhaft zu klären. Wenn die Bundesspitze der CDU förmlich SPD und PDS beschuldigt, wäre dies in jedem Fall ein Wendepunkt im Wahlkampf – und möglicherweise darüber hinaus. In den letzten Jahren galt es unter etablierten Parteien in Deutschland als undenkbar, einander den Einsatz physischer Gewalt im Wahlkampf vorzuwerfen. Von der Entscheidung der CDU hängt darum ab, ob jener Montagabend weiter die öffentliche Diskussion beherrscht oder ob er vergessen wird als ein lokales Scharmützel: nicht schön, aber auch nicht bemerkenswert über den Tag und den Ort des Geschehens hinaus.
An Dramatik hat es nicht gefehlt. Nachdem die ersten Eier geflogen waren, war von der Bundesprominenz nur noch der weiße Haarschopf von Edmund Stoiber zu sehen. Wie römische Legionäre hinter ihren Schilden verschanzte sich die kleine Gruppe von Politikern und Bodyguards hinter rot-weißen Sonnenschirmen mit CDU-Logo.
So unübersichtlich wie die Lage am Alexanderplatz war, SPD-Generalsekretär Franz Müntefering hat die potenzielle Brisanz der Schuldfrage schon erkannt. In einem Radiointerview beeilte er sich zu versichern, Demokratie sei zwar keine Harmonieveranstaltung, „Dialogfähigkeit heißt aber auch, dem anderen zuzuhören und ihn nicht mit Eiern zu beschmeißen.“ Auch der Berliner SPD-Chef Peter Strieder verurteilte körperliche Angriffe auf Politiker, sprang den Jusos aber direkt bei: „Sie haben gestern friedlich mit einem Handzettel gegen den Filz in der CDU protestiert.“
Als Angela Merkel am Alex von der Polizei zu ihrem Wagen eskortiert wurde, legte sie Mecklenburger Coolness an den Tag: „So ist das Leben.“ Eine offizielle Stellungnahme der Bundespartei stand bis gestern Nachmittag noch aus. Der CDU-Abgeordnete Günter Nooke, der am Vorabend noch vorsichtig mit Schuldzuweisungen gewesen war, gab gestern dagegen eine deutlich verschärfte Presseerklärung heraus: „Die Ausschreitungen waren offenkundig gezielt von den Jusos vorbereitet. Die SPD-Jugendorganisation hat die Verantwortung dafür zu tragen, dass Körperverletzungen bei politischen Wettbewerbern in Kauf genommen werden.“
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