: Die Frau, die Kohls Stasiakte öffnen will
Marianne Birthler will Licht auch in die westdeutsche Stasivergangenheit bringen. Es geht ihr um Transparenz
Ihre Behörde trägt im Volksmund noch immer den Namen ihres Vorgängers Joachim Gauck. Doch Marianne Birthler ist längst aus seinem Schatten getreten. Stand bei Gauck die Aufarbeitung ostdeutscher Vergangenheit im Vordergrund, sind bei ihr auch die Wessis dran. „Die Stasi hat sich tief in die westdeutsche Elite hineingebohrt“, sagt die 53-Jährige. Sie will den Stachel ziehen. Auch wenn’s wehtut.
Die Opferakten des von der Stasi bespitzelten Helmut Kohl müssen an die Öffentlichkeit, dafür kämpft sie. Dies verlange die Tatsache, dass Kohl eine Person der Zeitgeschichte sei. Verhindert das Gericht die Aktenherausgabe, könnten Forscher und Journalisten auch über andere Politiker nur noch eingeschränkt in den Stasiakten recherchieren. Für Birthler würde damit jahrelange Rechtspraxis in Frage gestellt, denn bei ostdeutschen Prominenten wurde die Herausgabe der Akten nie moniert.
Birthler geht es nicht um Denunziation. Ging es ihr nie. Die Motive Kohls kommentiert sie nicht. Sie will Transparenz: „Wir ostdeutschen friedlichen Revolutionäre hatten eine ganz starke Tradition von Glasnost: Türen auf, Fenster auf, Schränke auf. Das war unser Gegenmittel gegen die Diktatur. Und dazu gehört, dass wir meinen: Solange das Herrschaftswissen der ehemals Herrschenden geheim bleibt, hat es auch noch Macht.“
Das erste Mal in Konflikt mit den Mächtigen geriet Birthler in der neunten Schulklasse. Damals trat sie nach nur einem Jahr Mitgliedschaft aus der staatlichen Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ aus. Ihr Engagement im Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ und in der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ machte sie 1989 zu einer wichtigen Vertreterin des SED-Widerstandes.
Den 40. Jahrestag der DDR verbrachte die damalige Jugendreferentin des Berliner Stadtjugendamtes in der Gethsemane-Kirche am Kontakttelefon. Oppositionelle berichteten ihr von brutalen Übergriffen und Demütigungen durch die Polizei. Wer Birthler erlebt hat, kann sich gut vorstellen, wie sie in ihrer bestimmten und dennoch einfühlsamen, fast mütterlichen Art den Anrufern damals sagte: „Schreib mir das auf!“ Aus den Berichten machte sie eine Broschüre, kopierte sie 200-mal und verteilte sie an Oppositionelle und westdeutsche Journalisten.
Nach der Wiedervereinigung war Birthler Ministerin für Jugend, Bildung und Sport in Brandenburg. Sie überredete die Lehrer zu einem Gehaltsverzicht, um Entlassungen zu vermeiden. Als dem Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe Stasiverwicklungen vorgeworfen wurden, legte Birthler ihr Ministeramt nieder. Sie sei nicht bereit, Ausflüchte, zweifelhafte Erklärungsmuster und verspätete oder halbherzige Eingeständnisse durch stillschweigende Billigung mitzuverantworten.
Marianne Birthler ist robust. Sie verkörperte nie das Bild des stasiverfolgten DDR-Oppositionellen, der nach der Wiedervereinigung einfach in die Ecke gestellt wurde, aber bei Feierlichkeiten neben Helmut Kohl sitzen durfte – dem Einheitskanzler, der offenbar längst verdrängt hat, wer die Einheit ermöglichte. Heute ist Marianne Birthler selbst mächtig. Sie verwaltet tausende historischer Dokumente, aus denen nicht nur die Wahrheit spricht, sondern die auch einer Einordnung bedürfen. Sie weiß damit umzugehen.
RALF GEISSLER
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