Milošević n‘existe pas

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Dass der universalistische Sozialismus in Nationalismus umschlagen kann, ließ sie unberührt

Eines der letzten Fotos zeigt Milošević im dunklen Anzug und mit offenem Hemd auf dem Weg zum Hubschrauber, der am Stadtrand von Belgrad auf einem abgeriegelten Polizeigelände auf ihn wartet. Der Expräsident schaut mit trotzigem Blick in die Kamera ... Milošević habe bis zur letzten Minute auf serbischem Boden die Fassung bewahrt und seine Abführung aus der Zelle im Belgrader Zentralgefängnis mit sarkastischen Worten kommentiert: „Ich habe keine Angst vor Den Haag, das ist kein Gericht, sondern ein politischer Zirkus zum Schaden des serbischen Volkes.“ Frankfurter Rundschau, 2. 7. 2001

Auch meine alte Freundin O. nähert sich langsam ihrem 60. Geburtstag. Unerschütterlich rechnet sie sich zur radikalen Linken, seit sie in den Sechzigerjahren ihr Studium aufnahm und dem SDS beitrat. Ich hatte schon einmal die Ehre, hier von ihr zu erzählen (taz.mag, 12./ 13. 6. 1999). Sie rechnet auch zu den Verlierern unserer Gesellschaft, aber das ist eine andere Geschichte.

Wie in den entsprechenden Kadern seit den Sechzigern üblich, ergeht sich meine alte Freundin O. mit fröhlicher Leidenschaft in politischen Analysen (so nennt man es dort), die unterhalb des Scheins, welche die Medien über die Ereignisse breiten, entschlossen zu ihrem Wesen vordringen, den internationalen Kapitalbewegungen, den Machenschaften des US-Imperialismus. Eine herrliche Zeit, als George Bush d. Ä. den Irak angriff: vorgeblich, um das okkupierte Kuwait zu befreien (Schein), de facto wegen der amerikanischen Ölinteressen (Wesen). Lustig tobte meine alte Freundin O. gegen nützliche Idioten des US-Imperialismus, wie Jürgen Habermas oder gar Enzensberger, der Saddam Hussein bekanntlich mit Hitler verglich.

Was nun die Kriege im ehemaligen Tito-Jugoslawien angeht, so war an den Meinungen meiner alten Freundin O. eine interessante Verschiebung zu beobachten. Klar, als das Nato-Bombardement wegen des Kosovo losging, durfte sie mit schneidendem Hohn über die Auschwitz-Vergleiche des Bundesaußenministers herziehen. Der Bundesverteidigungsminister zog sich eine Verachtung zu wie sein US-Kollege wegen der Rechtfertigungen des Vietnamkrieges in den Siebzigern; das Wort „Hufeisenplan“ benutzte O. umsichtig, wenn unter ihresgleichen ein schallendes Gelächter auszulösen war, und jedes serbische Massaker, dessen Spuren unauffindbar blieben, zog sie überlegen lächelnd als Beleg heran.

Als Beleg wofür? Ja, das ist die interessante Frage. Operierte das Genre der politischen Analyse, dem wir seit unserer Jugend anhängen, bis zum zweiten Golfkrieg regelhaft mit der Unterscheidung Schein/Wesen, so fiel im Falle der Jugoslawienkriege die Seite des Wesens einfach weg. Zwar verfocht auch O. kurzfristig die These, die Nato – wie immer im Dienste der USA – sichere im Kosovo gewisse Kapitalinteressen an Bodenschätzen der Region (war es Mangan oder Wolfram?), aber dann ging sie rasch wieder zur Dekonstruktion der Rechtfertigungen über, welche westliche Politiker, insbesondere die Politiker der BRD, für die Bombenangriffe auf ihren Pressekonferenzen boten. Insbesondere Joschka Fischer, noch stärker Rudolf Scharping verwandelte ihr Spott in richtige Schießbudenfiguren.

Dass in Serbien ein Politiker namens Milošević regierte, kam in den Analysen meiner alten Freundin O. nicht vor. Sagte einer irgendwas über Serbien, kam sie sofort auf Reissmüller (oder war es Nonnenmacher?) zu sprechen, Leitartikler einer großen konservativen Zeitung und seit langen Jahren, wie sie wusste, „ein gestandener Serbenfresser“ – wie meiner alten Freundin O. überhaupt seit den frühen Neunzigern, als das große Tito-Jugoslawien zerfiel, ein ganzes Geschichtsbuch zuwuchs, das die traditionell imperialistische Politik Deutschlands gegenüber dem Balkan entrollte, einem Balkan, der, wie gesagt, selber als Akteur gar nicht existierte.

Hätte die BRD und ihr Außenminister Genscher die Emanzipation Sloweniens und Kroatiens nicht so eifrig befördert, wären sie im jugoslawischen Bundesstaat verblieben – dass Milošević denselben unter serbische Oberhoheit bringen wollte, wogegen die Slowenen und Kroaten sich sträubten, diesen Gedanken auch bloß anzuhören, war meine alte Freundin O. ganz unfähig. Das interessante Problem, dass der (universalistische) Sozialismus unvermittelt in (partikularistischen) Nationalismus umschlagen kann, ließ sie unberührt; dass Mihailo Marković, der in Tito-Jugoslawien die experimentelle Zeitschrift Praxis und die berühmte marxistische Sommerschule auf der Insel Korcula organisierte (zu der Habermas, Herbert Marcuse und ihresgleichen beitrugen), dass dieser Marković inzwischen als einer der schärfsten serbischen Nationalisten agierte, Horst Mahler vergleichbar, das kam bei O. nicht vor (obwohl sie sonst Helden und Verräter der neuen Linken so gern sortiert).

Als das Nato-Bombardement begann, freute sie sich herzlich auf die Protestbewegung, die sich unter der Jugend des Westens sogleich dagegen erheben werde – „wie damals bei uns gegen den Vietnamkrieg!“ Aber sie blieb aus. Wären auf den einschlägigen Demonstrationen Porträts von Milošević mitgeführt worden, so wie die Vietnamdemonstranten Ho-Chi-Minh-Plakate hochhielten? Wäre der einschlägige Ruf durch „Slobo! Slobo!“ ersetzt worden bei der Massendemonstration, die in Berlin die Straßen vom Wittenberg- bis zum Ernst-Reuter-Platz überschwemmt hätte?

Joschka Fischer und noch stärker Rudolf Scharping verwandelte ihr Spott in richtige Schießbudenfiguren

Nö. Die Protestbewegung fiel ja aus, weil solche Slobo-Rufe und -Poster unmöglich waren. Der serbische Nationalismus konnte von zornigen jungen Menschen keineswegs – wie der Vietnamkrieg – als Akt der Selbstbefreiung gedeutet werden. Die Kritik am Westen, an der Nato und den USA bediente sich zwar noch der Formeln, die unsereins in den Sechzigern gelernt hatte, aber dabei musste gewissermaßen ästhetizistisch verfahren werden: Es existiert nur der Schein auf unserer Seite, dessen Radikalkritik ist geboten. Milošević und seine Politik existieren nicht. Und so kann ich mit meiner alten Freundin O. jetzt natürlich auch nicht darüber diskutieren, dass die westliche Politik gegenüber Milošević erfolgreich war.

Höhnisch würde sie durch die Nase schnauben: „Erfolgreich?!“ Sie würde auf die Kriegsopfer verweisen, von denen jedes einzelne bereits die Kategorie des Erfolges unanwendbar macht – die Opfer der Nato-Angriffe hat sie dabei natürlich vor Augen. Alles Reden über die von Milošević geführten Kriege und deren Opfer verfängt sich je bereits wieder in dem undurchdringlichen Gespinst des Scheins, das auf unserer Seite Wahrnehmung und Handeln bestimme.

Übrigens haben auch erfolgreiche Mitglieder von O.s Altersgruppe – Professoren, Dichter, Journalisten – in den Neunzigern gern so argumentiert, als existiere Milošević gar nicht – oder bloß als feindselige Pojektion des Westens. Dabei zeigten sie stets weit mehr Hass und Verbitterung als meine alte Freundin O., die ihren schlechten Lebensumständen zum Trotz eine denkbar gute Laune behielt.