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Henmania in Timbledon

Langsam glauben die Engländer daran, dass Tim Henman, der nach dem Sieg gegen Roger Federer heute im Halbfinale auf Goran Ivanisevic trifft, einen 65 Jahre alten Traum endlich wahr machen kann

aus Wimbledon MATTI LIESKE

Fünf Fragen bekam der neue englische Sportminister kürzlich in einer Radiosendung zu seinem Fachgebiet gestellt. Fragen, wie sie jeder britische Staatsbürger schon vor der Geburt im Rahmen einer pränatalen Talkshow per Ultraschall locker beantworten könnte. Richard Caborn aber wusste keine einzige Antwort, nicht einmal, wer der Kapitän des nationalen Cricketteams ist. Der ideale Minister für den notorisch erfolglosen englischen Sport, höhnten Spötter.

Wäre Mister Caborn nach einem Wimbledon-Sieger aus England gefragt worden, hätte er vermutlich schallend gelacht und das Ganze für einen Trick gehalten. Aber es gab tatsächlich welche, zuletzt Fred Perry, der das Turnier von 1934 bis 1936 sogar dreimal gewonnen hat. Seitdem wartet die Nation voller Sehnsucht auf den Nachfolger, selbst der Titelgewinn von Virginia Wade vor 24 Jahren bildete nur einen flüchtigen Trost für die darbende britische Tennisseele.

Bis vor einigen Jahren war die Sache wenigstens unkompliziert. Solange Leute wie Christopher „Buster“ Mottram, John Lloyd und später Jeremy Bates alljährlich das Banner der Hoffnung auf den Londoner Rasen trugen, war die Angelegenheit in der Regel schnell erledigt. Bevor das Herzogspaar von Kent richtig Platz genommen hatte in der Royal Box am Centre Court, waren die Burschen draußen und man konnte sich auf das richtige Tennis konzentrieren. Seit es jedoch auf obskure Weise gelang, den kanadischen Brachialaufschläger Greg Rusedski zu überzeugen, dass es sich als Engländer angenehmer lebt, und seit vor allem der waschechte Eingeborene Tim Henman auf der Bildfläche erschien, wird Wimbledon regelmäßig zu einer nervenzerrenden Achterbahnfahrt des sportlichen Patriotismus. „The Usual Two“ werden die beiden genannt, weil sie spätestens in der dritten Runde unter sich sind, wenn auch jene englischen Wildcards ausgeschieden sind, die in der ersten Runde gegen eine andere englische Wildcard gewonnen haben.

The Usual Two waren auch diesmal die Hoffnungsträger, Rusedski wurde jedoch relativ früh von seiner persönlichen Nemesis Goran Ivanisevic erwischt. Also doch wieder Henman, dessen persönliche Nemesis bisher Pete Sampras hieß. Bei seinem achten Wimbledon erreichte der 26-Jährige mit dem Sieg gegen den Schweizer Roger Federer am Mittwoch sein drittes Halbfinale, beide Male zuvor beendete Sampras die Titelträume. Als präventive Zugabe hatte er Henman schon 1995 in der zweiten Runde abserviert. Zweimal stand Henman im Viertelfinale, letztes Jahr scheiterte er im Achtelfinale am Australier Philippoussis.

Fünfmal hatte Henman also vor dem diesjährigen Turnier die Hoffnungen Albions bis weit in die zweite Wimbledon-Woche hinein getragen und mit seinen bejubelten Siegen so hochgepäppelt, dass die einschlägigen Gazetten des Landes vor lauter Tiger-Tim-Henmania in „Timbledon“ kaum noch Platz für andere Dinge – außer Cricket natürlich – hatten. Neue Größe winkte am Horizont, eine goldene Zukunft schien bevorzustehen. So verzweifelt ist die Stimmung angesichts der deprimierenden Situation im englischen Tennis, dass selbst Spitzenfunktionäre allen Ernstes glauben, es bedürfe nur eines Wimbledonsieges von Henman und alles würde gut. Ein Tenniswunder nach dem Vorbild Deutschlands im Gefolge des Becker-Triumphs von 1985 stellt man sich vor, ohne die vollkommen unterschiedlichen Bedingungen nur ansatzweise zur Kenntnis zu nehmen.

Fünfmal platzte die Illusion mit einem brutalen Knall, kleinlaut kehrte Britannien in seine angestammte Rolle sportlicher Nichtsnutzigkeit zurück und Pete Sampras zog mit der Trophäe ab. Dessen Rauswurf durch den Schweizer Federer wurde nirgends mit derartig ungläubiger Begeisterung quittiert wie in England, denn plötzlich schien der Weg frei für Tim Henman. Nachdem dieser auch noch erst sein zweitägiges Match gegen Todd Martin, dann das Viertelfinale gegen Sampras-Überwinder Federer gewonnen hat, nähert sich die Euphorie dem Siedepunkt. Zwar ist man misstrauisch geworden nach den vielen Enttäuschungen und die Lobeshymnen für den Tennishelden lesen sich deutlich vorsichtiger als in den vergangenen Jahren, doch tatsächlich scheinen die Chancen diesmal besser zu stehen als jemals zuvor. Seinen heutigen Halbfinalgegner Ivanisevic hat Henman immer geschlagen, selbst in dessen guten Tagen, und auch Pat Rafter und Andre Agassi, die das andere Halbfinale bestreiten, wirkten bisher keinesfalls unschlagbar. Das Boulevardblatt The Sun kündete gestern jedenfalls schon mal vorsorglich vom ersten Sporthelden seit 1966 und druckte zum Vergleich ein Foto des Fußballers Bobby Moore, Kapitän des damaligen Weltmeisterteams, auf Seite 1.

Tim Henman scheint gelernt zu haben, mit den erdrückenden Erwartungen umzugehen und sie in positive Energie zu verwandeln. „Wenn man 14.000 Leute hat, die einem helfen wollen, ist das gewiss ein gutes Gefühl“, sagt der ruhige Musterbrite, der inzwischen sogar hin und wieder die Fäuste ballt. Im Übrigen sei er „perfekt bereit zuzugeben, dass ich im vierten Satz ein wenig angespannt war.“ So nüchtern redet er immer, wer sonst würde die hochfliegenden Hoffnungen und Sehnsüchte eines ganzen Landes vor dem Halbfinale in solch magere Worte bündeln wie die folgenden: „Es wird sicher interessant sein, zu sehen, ob ich weiter komme als zuvor.“ Wenn nicht, sollte er die Gegner beim nächsten Wimbledon vielleicht überreden, Golf statt Tennis mit ihm zu spielen. Diesmal hätte ihm sein Dreierhandicap da allerdings auch nicht viel genützt. Achtelfinalgegner Todd Martin hat sogar Handicap 2.

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