: Falsche Reflexe
Sexualdelikte sind meist nicht primär sexuell motiviert. Die sexuellen Handlungen kaschieren lediglich den Sadismus und die Verwirklichung von Allmachtsfantasien
„Es gibt nichts Abscheulicheres als ein Verbrechen an einem Kind“, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Thema Sexualstraftäter. Um gleich zackig zu fordern: „Wegschließen – und zwar für immer.“ Womit die jährlich wiederkehrende Debatte über pädophile Kindestötungen ihren typischen Verlauf nehmen dürfte: Forderungen nach härteren Strafen werden durch Rufe nach mehr Therapie ergänzt. Den jährlich etwa acht pädophilen Kindestötungen werden die auf mehrere zehntausend bis über hundertausend chronischen Missbräuche im familiären Umfeld gegenübergestellt. Schließlich noch der Verweis auf die boomende Thailand-Kindersex-Tourismusbranche.
Nur: Irrtümlich ist bereits die Unterstellung, den Tätern ginge es vornehmlich um die Befriedigung ihrer Sexualität. So verschieden sie hinsichtlich Einkommen, Bildung, Schichtzugehörigkeit oder ausgeübter manifester Gewalt auch sein mögen, die Thailand-Fahrer und Internet-Kinderporno-User, die sadistischen Kindesmörder oder Väter und Onkel, die Kinder sexuell missbrauchen: Sie alle genießen die Machtausübung über ein wehrloses, willfähriges Opfer. Nicht überschießende Triebe, wie die Täter zur Rechtfertigung vor sich und den Gerichten gerne glauben machen möchten, sondern der Kick grenzenloser Beherrschung eines Opfers macht die Befriedigung aus. Die Taten werden auf dem Feld der Sexualität verübt, ohne jedoch primär sexuell motiviert zu sein. Die wenigsten Täter kommen bei ihren so genannten pädophilen Handlungen ohne größere Mühen zum Orgasmus, nicht wenigen gelingt dies überhaupt nicht (was die Wut auf das Opfer als Zeuge eigener Unfähigkeit noch steigert). Sexuelle Handlungen kaschieren lediglich den Sadismus und die Verwirklichung von Größen- und Allmachtsvorstellungen. Dennoch rechtfertigen die Täter ihre Verbrechen gern damit, dass ihre Opfer einverstanden gewesen seien, hätten sogar zu sexuellen Handlungen provoziert, oder – wie im Falle der ideologisch verbrämten Pädophilie – es handele sich um eine von Liebe geprägte Beziehung zweier Menschen mit gleichen Interessen. Diese absurde Behauptung erhob sogar der Bremer Soziologe Rüdiger Lautmann in einer Studie.
Entscheidend bei den Taten ist jedoch das Ausmaß an ausgeübter manifester sadistischer Gewalt. Das Kontinuum beginnt bei schwärmerischen Verschmelzungsideen mit einem Opfer, das als autonome Person für den Täter nicht mehr in Erscheinung tritt. Das Gefühl der All-Harmonie entschädigt von den Zumutungen des Alltags, in dem man sich Konflikten mit eigenständigen anderen Personen wenig gewachsen fühlt. Seine Steigerung ist die Ausnutzung materiellen Elends mit der Lust, sich ein verfügbares Objekt kaufen zu können, das einem scheinbar grenzenlos unterlegen ist und zur Realisierung aller Fantasien bereit zu sein scheint.
Die Befriedigung entsteht also aus einer Rollenumkehr: Nicht man selbst ist es noch, der sich unterlegen, ohnmächtig oder sonstwie ausgeliefert fühlt. Die eigene Schwäche wird an das Opfer delegiert und dort bekämpft. Dieser Mechanismus, der für sadistische Gewalt schlechthin verantwortlich ist, bringt der Züricher Psychoanalytiker Arno Gruen treffend auf den Punkt: „Es sind die Gemeinsamkeiten, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede.“ Bekämpft werden die an der eigenen Person gehassten Züge, die man mit anderen teilt. Ohnmacht, Angst und Bedürftigkeit sollen ausgemerzt werden, indem sie bei anderen erst ausgelöst und dann genüsslich bekämpft werden. Der im Juni verurteilte so genannte Sexualstraftäter Oliver S. aus Duisburg erwürgte einen kleinen türkischen Jungen, nachdem er ihn gemeinsam mit seiner Freundin in die Wohnung gelockt hatte. Besonders wichtig war ihm dabei, dem Jungen in die Augen zu blicken, während er ihn erdrosselte. Erst danach nahm er sexuelle Handlungen an dem Leichnam vor.
In den Dunstkreis schmuddeliger Forensik kommt allerdings nur, wer hierzulande durch derart besonders gewalttätige Handlungen auffällt – kurz: wer sich entweder keine Perversions-Exkursionen nach Thailand leisten kann oder bei dem die Selbstkontrollmechanismen angesichts potenzieller Opfer versagen. Ganz anders sieht es für jene Täter aus, die fernab in Asien ihren Neigungen nachgehen. Sie können hierzulande die Maske des Normalbürgers oder treu sorgenden Familienvaters aufrecht erhalten.
Bei den Tötungsdelikten gilt: Erststraftaten lassen sich kaum verhindern. Die außerordentlich hohe Rückfallquote könnte bei den verelendeten Tätergruppen durch Unterbringungen mit Begutachtungen, starker externer Kontrolle und engem Netzwerk nach Entlassung erheblich gesenkt werden. Trotz aller Rufe nach mehr Therapie aber fehlt es an Netzwerken und Nachsorgeeinrichtungen ebenso wie an den Essentials einer verantwortlichen Behandlung in den forensischen Einrichtungen, die nach wie vor unter katastrophalen Bedingungen arbeiten. Doch die feinen White-collar-Täter erreicht man damit erst gar nicht.
Opferschutz kann nur in konsequenter Familien- und Sozialpolitik bestehen. Denn aus verelendeten Familienverhältnissen rekrutieren sich sowohl die späteren Täter als auch ihre Opfer. Wer dagegen die flexibilisierte Arbeits-Eltern-Welt propagiert, den Haushaltsfreibetrag mit verheerenden Folgen für die ohnehin von Verarmung am stärksten betroffene Gruppe der allein Erziehenden streicht, überlässt Kinder sich selbst. Denn abwesende Väter und Mütter und fehlende Angebote für ganztägige Kinderbetreuung sind ideale Nährstätten aller Arten von Missbrauch: In Köln erfreute sich ein Pädophiler großer Sympathien, weil er den überlasteten Eltern eine Hausaufgabenbetreuung anbot. Dabei drehte er mindestens 90 pornografische Videos mit den Kindern.
Gerade in solchen Fällen können diejenigen Kinder nicht Nein sagen, die sich vernachlässigt fühlen und deren überlastete oder allein erziehende Eltern froh sind, wenn sich jemand um sie „kümmert“. Die immer wieder diskutierte Immunisierung durch entsprechendes Training greift gerade bei den gefährdeten Kindern nicht.
Ohnehin sind solche Selbstsicherheitsprogramme eher ein Abschieben der politischen Verantwortung an die persönlich Betroffenen, die dann schauen sollen, wie sie zurechtkommen. Denn tatsächlich mangelt es den Kommunen und damit den Jugendämtern wenn schon nicht an Motivation, dann doch fast immer an Geld für teure Maßnahmen zu Opferschutz und Täterprävention: Außerhäusige Unterbringungen, sozialpädagogische Familienhilfen, personalintensive Heime für psychisch geschädigte Kinder und ortsnahe kinderpsychiatrische Einrichtungen fehlen fast allerorten. Recht hat er, der Kanzler. Es gibt nichts Abscheulicheres als ein Verbrechen an einem Kind. Statt es beim Wegschließen der Täter zu belassen, sollte er das Portmonee öffnen für sozial- und familienpolitische Maßnahmen.
MICHA HILGERS
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