: Der Terror der Normalität
Täglich eine Grenze überschreiten müssen: Parallel zur Ausstellung „Der (im)perfekte Mensch“ lud das Hygiene-Museum in Dresden zu einer Tagung, um die Probleme von Behinderten zu diskutieren
von UTE SCHEUB
Georg Schlesinger, der „Papst des deutschen Maschinenbaus“, war im Ersten Weltkrieg gleich an zwei Fronten tätig. Einerseits trug er maßgebend zur Normierung der deutschen Kriegswaffen und Maschinenpistolen bei, andererseits auch zur Normierung der Verwundungen, die diese Waffen gerissen hatten. Er leitete die Berliner „Prüfstelle für Ersatzglieder“, in der standardisierte Prothesen für Kriegsversehrte hergestellt wurden, Ersatzglieder für die zerfetzten Mitglieder der Kriegsmaschinerie. Eine seiner technischen Zeichnungen mutet wie eine moderne Gesellschaftskarikatur an: Unter der Überschrift „Deutsche Normen“ regt er die Produktion von „austauschbaren Teilen“ an, hergestellt in einer „Fabrik für Normalien“. Mittels „Einheitsbohrung“ werden „Spielraum“ und „Toleranz“ gemessen.
Die Gesellschaft als Fabrik von Normalien: Darum ging es nicht nur den Kulturwissenschaftlern Peter Berz und Matthew B. Price mit ihren Thesen über die Prothesen Schlesingers, darum ging es bei der ganzen Tagung „Der (im)perfekte Mensch“ am Wochenende in Dresden. Die faszinierende gleichnamige Ausstellung, die dort am Hygiene-Museum noch bis zum 12. August läuft, hat inzwischen mit über 135.000 Gästen alle Besucherrekorde von Sonderausstellungen des Museums gebrochen.
Das wäre sicher nicht passiert, wenn sich Ausstellung wie Tagung den Problemen von Behinderten auf übliche Weise genähert hätten: Opfer, Mitleid, Voyeurismus. Stattdessen setzten die OrganisatorInnen den herrschenden Begriff von Normalität an den Anfang ihrer Überlegungen – und sorgten für barrierefreie Zugänge für alle „Unnormalen“: mit rotem Teppich auf der Rollstuhlrampe, Brailletafeln für Blinde, Gebärdendolmetscherinnen für Gehörlose.
Was aber ist gesellschaftliche Normalität, was sind ihre Leitideale? Gleich im ersten, sakral verdunkelten Raum der Ausstellung sind sie auf sieben Altären zu finden: Autonomie, Leistung, Gesundheit, Schönheit, Perfektion, Genuss und Rationalität. Für die Rechtswissenschaftlerin Theresia Degener ist das „der Terror der Normalität“. Theresia wurde als so genanntes Contergan-Kind zu Armprothesen gezwungen, obwohl sie damals schon gelernt hatte, ihre Füße genauso geschickt zu fußhaben wie andere Menschen ihre Hände. Die Nichtbehinderten hätten eine „Dominanzkultur“ geschaffen, kritisierte sie auf dem Podium und gestikulierte ausdrucksvoll mit ihren Füßen.
Behinderung sei kein Zustand, sondern eine rechtliche und kulturelle Konstruktion – dieser Wertung stimmten Rosemarie Garland Thomson, Sharon Snyder und David T. Mitchell ausdrücklich zu. Die drei WissenschaftlerInnen waren die ersten VertreterInnen der in den USA längst akademisch etablierten „Disability Studies“, die zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen wurden. Wäre so etwas auch hier nötig und durchsetzbar? Eine bundesweite Arbeitsgruppe, die sich am Rande der Tagung gründete, will demnächst erste Impulse liefern.
Der Rollstuhlfahrer Mitchell erinnerte an die unselige Tradition der Eugeniker, die um die Jahrhundertwende auch im Hygiene-Museum Vorarbeit für die Nazis lieferten und in den USA von 1890 bis 1930 Behinderte zu Minderwertigen umdefinierten. 40 Bundesstaaten, so Mitchell, verboten damals Heiraten von Behinderten, 35 bauten Anstalten, 15 verabschiedeten Sterilisationsgesetze und ließen rund 63.000 Menschen sterilisieren. Die handversehrte Garland Thomson wiederum präsentierte auf Dias und Zeichnungen den Fall der Mexikanerin Julia Pastrana, die ab 1854 in mehreren Kontinenten als „Weltwunder“, „Gorillafrau“ und „hässlichste Frau der Welt“ präsentiert wurde. Die Indianerin, im Gesicht und am ganzen Körper stark behaart, verstieß scheinbar gleich gegen zwei strikte Naturgrenzen: zwischen Mensch und Tier und zwischen Frau und Mann.
Peter Radtke, Schauspieler und verkrüppelter Rollstuhlfahrer, bekannte sich dazu, ebenfalls schon diese Grenze überschritten und den Affen gemacht zu haben. „Darf ein Behinderten einen Affen spielen?“, empörte sich Bild, als er 1994 Franz Kafkas „Bericht an eine Akademie“ auf der Bühne monologisierte. Dabei hatte Radtke für das Publikum nur seine alltäglichen Erfahrungen widergespiegelt: ununterbrochen beglotzt zu werden. Nun sind für ihn „Menschen mit körperlichen Behinderungen von Natur aus Schausteller“. Aber im Unterschied zur Freakshow stelle er sich im Theater nicht nur physisch, sondern auch mit intellektuellen Leistungen zur Schau. Das, was die Zuschauer dabei schockiere, sei die einfache Frage: „Bin ich wirklich so verschieden von euch?“
Imperfekt? Perfekt? Perfekt imperfekt? Normalität und Abweichung, befand der Anthropologe Dietmar Kamper, seien paradoxerweise zur selben Zeit entstanden. „Die bürgerliche Gesellschaft forderte Perfektion, Minderheiten kritisierten sie. Das war die Affirmation der Norm durch die Kritik hindurch.“ Die Schaltung null – eins, perfekt – imperfekt, die sei jetzt endgültig „unbrauchbar“ geworden.
Unbrauchbar, aber leider immer noch intakt. Inzwischen drängeln Biomediziner an den Schalter und verkünden die bevorstehende Produktion des garantiert behinderungsfreien Menschen. Dieser neue Terror der Normalität, empörte sich Theresia Degener als Mitglied der Enquetekommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“, stelle „das Lebensrecht Behinderter in Frage“.
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