Berlusconi wird unterschätzt

Italien und die EU beruhigen sich damit, dass Berlusconi den soliden Staatsmann mimt. Doch tatsächlich plant er einen Regimewechsel und strebt eine plebiszitäre Autokratie an

Wäre das Wort nichtso hässlich: Man könnte die Forza Italia auch als Führerpartei bezeichnen

Was ist mit Silvio Berlusconi los? Diese Frage treibt vor allem seine Opponenten um, die ihre Gegner aus dem Wahlkampf kaum wieder erkennen. Wo ist der schrille Populist, der Italien vom „kommunistischen Regime“ befreien wollte? Wo der Angeber, der sich zum „besten Politiker der Welt“ ernannte? Der ein „neues italienisches Wunder“ verhieß? Und dabei auch vor Geschmacklosigkeiten nicht zurückschreckte? So rief er einem Rollstuhlfahrer zu: „Stehe auf und gehe!“

Und wo ist der Berlusconi von 1994? Damals hatte er wie ein Bulldozer die Amtsgeschäfte als Ministerpräsident übernommen. Als „vom Herrn Gesalbter“ führte er Krieg an allen Fronten: mit der Opposition, den Gewerkschaften, der Justiz, dem Koalitionspartner Lega Nord. Und das Feuer wurde erwidert: Die Gewerkschaften organisierten gegen Berlusconis Rentenreform die größte Kundgebung der italienischen Nachkriegsgeschichte, die Mailänder Staatsanwälte schickten ihm ausgerechnet zum G-8-Gipfel in Neapel einen Ermittlungsbescheid, Umberto Bossi von der Lega beschimpfte ihn als Mann der Cosa Nostra und brach nach nur sieben Monaten das Regierungsbündnis. Vergällt wurde Berlusconi das neue Amt auch durch das internationale Misstrauen.

Telekratie? Mediendiktatur? Bruch mit der gewohnten Parteiendemokratie? Plebiszitär-populistische Legitimierung à la Peron? Bruch des antifaschistischen Nachkriegskonsens in Westeuropa? Europa hatte 1994 seinen „Fall Italien“. Unterwerfung der staatlichen TV-Anstalt RAI, Domestizierung der Justiz durch ein Amnestiedekret für Korruptionsdelikte, satte Steuergeschenke für Unternehmen – der staatsanwaltschaftlich verfolgte TV-Milliardär Berlusconi nährte den Eindruck, er nutze die politische Macht, um erstens seine persönlichen Probleme zu bereinigen und zweitens Italien ein neues Regime zu bescheren.

Von Regimewechsel ist dagegen im Jahr 2001 anscheinend nichts zu spüren. Ebenso unvermittelt wie hartnäckig präsentiert sich Berlusconi als Staatsmann. Konzilianz gegenüber der Opposition, Kontinuitätsversprechen in der Außenpolitik, Kooperationsangebote an die Gewerkschaften – Berlusconi ist mit Erfolg dabei, seine Machtübernahme als demokratischen Alltag zu inszenieren. Doch in der Sache hat sich gegenüber 1994 wenig geändert. Die Anomalien von gestern sind die von heute.

Stichwort TV-Unternehmer. Berlusconi selbst bezeichnet es immer wieder als Mär, dass die Kontrolle über seine drei Privatkanäle – und dazu demnächst noch über die RAI – ihm ein Meinungsmonopol verschaffe und die Demokratie gefährde. Schließlich hätten die Wähler damit kein Problem und schließlich seien ausgerechnet bei seiner Anstalt Mediaset viele linke Journalisten angestellt. Deshalb wohl tut er wieder alles, um die Kontrolle über seinen angeblichen Rotfunk und seine anderen Medienbeteiligungen nicht zu verlieren. Anders als 1994 lässt er sich Zeit bei der Eroberung der RAI. Warum auch Eile zeigen? Schon jetzt bringt RAI 1 täglich servile Berichte über den neuen Herrn.

Stichwort Justiz. Weiterhin ermitteln Mailands Staatsanwälte gegen Berlusconi wegen Bilanzfälschung und Korruption. Weiterhin auch plant der neue Ministerpräsident eine Justizreform, die die Ermittlungsbehörden an die Kette der Exekutive legt. Doch laute Töne, hässliche Amnestiedekrete erspart er sich diesmal. Mit Grund: Anders als 1994 besteht keine Gefahr, anders als damals dürfen die Staatsanwälte nicht mehr damit rechnen, dass die Massen ihren Kampf gegen die Korruption breit unterstützen. Denn Berlusconi ist es gelungen, durch pure Wiederholung glaubhaft zu machen, die Verfahren gegen ihn seien recht eigentlich „politische Verfolgung“.

Stichwort Forza Italia. Berlusconis Geschöpf ist so undemokratisch verfasst wie eh und je. Wäre das Wort nicht so hässlich – man wäre versucht, von einer Führerpartei zu reden. Forza Italia kommt ohne Parteitage, ohne Wahl der Parteispitze, ohne demokratische Nominierung der Kandidaten aus; die wichtigsten Sitzungen der Parteispitze finden gleich dort statt, wo sie hingehören: in Berlusconis Wohnzimmer.

Stichwort Koalitionspartner. Gianfranco Fini von Alleanza Nazionale hebt nicht mehr den Arm zum römischen Gruß, und er nennt Mussolini auch nicht mehr, wie noch 1994, den „größten Staatsmann des Jahrhunderts“. Die Exfaschisten geben sich manierlich – zugleich aber setzen sie darauf, die Grenze zwischen Faschismus und Demokratie aufzuweichen. Sie lassen auf staatlich gesponserten Kulturtagungen unter dem schönen Titel „Die Feder, das Schwert, das Blut“ den japanischen Poeten Mishima feiern, der sich zum Ruhme Nippons 1968 selbst entleibt hatte, oder veranstalten Buchschauen über „antikonformistische Verlage“ aus der Naziecke. Die Lega Nord tut erst gar nicht so, als sei sie gewendet; sie hetzt eifrig weiter gegen „Islam-Invasion“ und die EU („Sowjetunion Europa“).

Der staatliche Fernsehsender RAI bringt schon jetzt täglich servile Berichte über den neuen Herrn

Nicht Berlusconi hat sich geändert, sondern sein Umfeld. 1994 war seine Macht noch schwach, gründete sich auf einer noch nicht gefestigten Bewegung, war von außen (Justiz, Gewerkschaften) wie von innen (Koalitionspartner Lega Nord) bedroht. Da gab es keine Alternative zur Konfrontation an allen Fronten, da musste Berlusconi auf Polarisierung und Mobilisierung seiner Anhänger setzen. Ein Szenario wie vor sieben Jahren droht Berlusconi heute nicht: Die Staatsanwälte können ihm nicht mehr gefährlich werden, die Gewerkschaften sind gespalten, die dezimierte Lega Nord hat ihr Drohpotenzial weit gehend verloren. Es ist deshalb kein Ausweis von Schwäche, von Domestizierung gar, wenn der gleiche Mann nun zum vorgeblichen „Christdemokraten“ mutiert. Er setzt heiter-gelassen auf Zeit – weil er sie hat. Ohne Radau wird Berlusconi sich eigenen Interessen widmen, zum Beispiel durch ein neues Mediengesetz, durch die Streichung lästiger Straftatbestände wie Bilanzfälschung, durch die Beschneidung der Unabhängigkeit der Justiz. Und dann geht es adagio ans Projekt „Unternehmen Italien“.

Gleich zweierlei meint der neue Herr damit. Erstens kennt Berlusconi nur das Interesse der Unternehmen – deshalb ist für die Felder Sozialstaat, Arbeitnehmerrechte, Gewerkschaftsmacht schon eine kräftige „Lichtung des Unterholzes“ angesagt. Zweitens würde Berlusconi gern auch den Staat selbst wie ein Unternehmen führen. Langwierige Prozeduren, Vermittelei in Parteien und Parlamentsausschüssen?

Nichts für den Mann der Tat, der erst im eigenen Unternehmen, dann in seiner Partei die Autokratie schätzen lernte. Seine Wahlkämpfe führte er bisher schon als Plebiszite – und nun soll der plebiszitär-autoritäre Umbau der Verfassung her. Ihr Kernstück soll die Direktwahl des Präsidenten durchs Volk sein. Dann wäre Berlusconis Werk komplett. Dann könnte er mit straffer Hand den schlanken Staat durchsetzen und als echter Chef das Unternehmen Italien sanieren. MICHAEL BRAUN