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Sitzen im Zipfelsack

■ Das Focke-Museum stellt sie derzeit aus, die allseits bekannten bunten Plastikschemel. Hinter dem Design steckt mehr als nur der Kitsch der 60er.

Ist der gemeine Mensch überhaupt zum Sitzen gemacht? Eine berechtigte Frage. Nicht ohne Grund sind ja die häufigsten Berufskrankheiten von Schreibtischtätern das Stechen im Rücken, die geschwollene Wade, der Bandscheibenvorfall. Nicht ohne Grund gleichen die Besucher eines Straßencafés am Sonntag eher einem zappelnden Körperhaufen als zivilierten Kaffeetrinkern. Da wird gekippelt und geruckelt, sich nach vorne gestützt und nach hinten gelehnt und die Sitzfläche blankgescheuert. Wie unbequem.

Design-Wissenschaftler Hajo Eickhoff ist jedenfalls der Meinung, dass der gemeine Mensch „nicht als homo sedens geboren“ wird, sondern unter Antrengungen und Widerständen – Babys fallen ja anfangs auch immer wieder um – von der Gesellschaft zum Stuhlwesen geformt werde. Eickhoff gehört zu denen, die am Katalog „Positionen des Designs – Die 60er“, der die aktuelle Ausstellung im Focke-Museum begleitet, mitgearbeitet haben. Verdammt zum Sitzen sind wir also, ein Leben lang. Ein weißer Plastikstuhl vor dem Café gilt als Ikone zivilisierter Bevölkerung.

Und dann die 60er. Die Revoluzzer, die Anti-Bürger, die keine Lust mehr hatten, sich ihre Sitzhaltung von einem eckigen vierbeinigen Monstrum diktieren zu lassen. Im Gegenteil: Der Stuhl soll die Haltung des Menschen annehmen. In der Sonderausstellung im Focke-Museum ist die radikale Veränderung des gemeinen Hausstuhls in den 60ern deutlich erkennbar.

„Stuhl und Sessel erscheinen zwar noch als Sitzmöbel, vor allem aber sind sie Haltemöbel“, schildert Eickhoff. „Sie verlieren ihre eindeutige Kontur und Funktion.“ Die Sitzebene rutscht ab auf Unterschenkelhöhe. Ein Resultat aus der Sitzrevolution ist „Tongue“, eine violette Polsterschlange, die einer Zunge ähnelt. Mehr Schaumstoff-Skulptur als Fernsehsessel. Daneben gibt es unzählige Varianten des grellbunten, wirbelsäulenfreundlichen Plastikstapelstuhls. Die vier Beine verschmelzen oft zu einem Würfel oder rundem Klumpen, auf dem dann die Sitzfläche ruht. Die Werkstoffe wie Holz, Stahl oder Leder wurden in den Sechzigern fast völlig vom neuen, flexiblen Material Polyester verdrängt. Der Stuhl sollte bequem, billig und vor allem rund sein. Ein Wegwerfspielzeug eben.

Über Umweltverträglichkeit oder Müllberge wurde kaum nachgedacht im Taumel des neugewonnenen Sitzglücks. Wer kannte vorher schon sowas: ein oranger Zipfelsack-Sessel („Sacco“), gefüllt mit Polystyrolkügelchen, der sich der spontan gewollten Sitzposition anpasst. Herrlich. Oder die vielen bunten „Blows“, aufblasbare Plastiksessel, die problemlos überallhin mitgenommen werden können. „Es ist Design für wenig Geld. Gedacht für den Gebrauch in einer kurzen Wohnperiode“, so Eickhoff. „Die Möbel besitzen Komik und produzieren Freude, erzählen Geschichten und schreien bunt und grell nach Aufmerksamkeit.“

Die Einrichtung als Ausdruck des Lebensgefühls. Nur gibt es da noch ein paar andere Nachteile außer dem ökologischen Aspekt. Wer bläst die Blow-Sessel auf und fächelt dann den Plastikmuff aus dem Zimmer? Und wer kann sich ein so großes Appartment leisten, dass neben dem alarmroten Glasfiber-Monstrum „Tomato“ aus dem Jahr 1971 noch genügend Platz zum Wohnen ist? spo

Wer seine alten Stapelstühle endgültig loswerden oder sich eine kultige neue Einrichtung gestalten will, der sollte unbedingt am 18. August von 11 bis 15 Uhr zum „60er Design-Flohmarkt“ im Focke-Park kommen.

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