: „Es gibt so viele überflüssige Texte“
Neues vom Interface Ich: Der Ingeborg-Bachmann-Preisträger Michael Lentz über das Modell Düren, den Stress nach der Preisverleihung, die Wendung vom Bezeichneten zum Bezeichnenden und zur Frage, warum er für den Zeitgeist keine Zeit hat
Interview: MONIKA GOETSCH
taz: In Ihrem Text „Muttersterben“, mit dem Sie Bachmann-Preisträger wurden, beschimpfen Sie das „verschissene“ Düren. Was ist eigentlich so schlimm an Düren?
Michael Lentz: Kleinere Städte sind immer unerträglich, wenn sie versuchen, Großstädte zu sein, leere Fußgängerzonen hinwuchten oder einen Marktplatz, der völlig unbewohnbar ist. In Deutschland gibt es mindestens dreißig Städte wie Düren. Buxtehude, Cleve, Dahlem – ich hätte für meine Geschichte auch irgendeine andere Stadt nehmen können.
Die Dürener haben Ihre Schelte aber ziemlich persönlich genommen.
Manche ja. Ein Dürener hat mir vorgeschlagen, mich von meinen Problemen doch in einer Therapie zu befreien.
Zuletzt hat man sich in Fulda über einen fuldafeindlichen Werbespot von Sixt geärgert.
Die Zentrale von Sixt steht übrigens in Düren.
Danach hat die Werbeagentur einen Spot gedreht, in dem Fulda wunderbar wegkommt. Als Entschädigung sozusagen. Haben Sie Ähnliches vor?
Ich bin doch nicht verrückt! Abgesehen davon war mir die Passage über Düren in meinem Text noch nie besonders wichtig. Erst durch Klagenfurt ist sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
Und warum?
Weil Düren das Nicht-Berlin ist. Der immer wieder herbeigesehnte und herbeiprognostizierte Berlinroman als Berlin-Abarbeitung, Zeitgeistparaphrase und Kulturdenkmal. Ganz deutsch eben, und eine ganze Generation von Autoren sieht das als ihre Lebensaufgabe an – und hier eine Passage über eine deutsche Kleinstadt sozusagen als Roman in Pillenform, aber eben auch ganz deutsch, oder?
Sie wohnen in München. Ist Düren auch das Nicht-München?
Natürlich.
München wird aber häufig genug Provinzialität vorgeworfen.
Düren ist das geschlossene System, München das offene. Es ist offen zu kommen und offen zu gehen.
Aus Düren sind Sie Mitte der Achtzigerjahre auch weggegangen.
Aber bis dahin war es ein geschlossenes System. Ich konnte ja erst gehen, als ich älter war.
Und doch hat letztlich gerade Düren Sie inspiriert. Weil es so langweilig war?
Sicher. In meinem Text ist Düren trotzdem nur ein Modell, ein Sinnbild der Enge, der Wahrnehmungsenge. Wenn man das Krankenhaus verlässt und weiß, dass darin einer stirbt und man nicht fliehen kann, weil alles überschaubar und besetzt ist von Erinnerungen, es keinen Ort der Ablenkung gibt und keinen neu zu besetzen, wenn alles schon überformt ist: Das ist das Modell Düren. Die meisten Berliner kommen ja übrigens auch aus der Kleinstadt. Die Kleinstädter ziehen in die Großstadt, um die Großstadt zu finden. Aber sie finden sie nicht. Weil sie nicht in ihnen ist.
Ist die Großstadt in Ihnen?
Ich glaube schon. In Bangkok oder Seoul und anderen molochartigen Städten fühle ich mich wahnsinnig wohl. Die gefallen mir sehr viel besser als Berlin. In Städten wie Bangkok, Seoul, in einer Stadt wie London und in gewisser Weise auch in Paris gibt es eine Anonymität, die ich schätze.
In München weniger.
Richtig. Aber München kann mich, obwohl ich schon fast fünfzehn Jahre hier lebe, doch noch überraschen. Manchmal werde ich mit dem Auto mitgenommen und irgendwo abgesetzt. An der Peripherie, am Isarhochufer, irgendwo. Hätte man mir auf der Fahrt die Augen verbunden, wüsste ich nicht, dass ich in München bin.
Ist das die Stadt zum Bleiben?
Ich bleibe gern und gehe gern von hier aus anderswo hin. Auch nach Berlin.
Hat Inspiration überhaupt mit der Stadt zu tun, in der man lebt?
Weniger. Und das ist auch gut so. Wenn ich immer nach der Stadt fragen müsste, in der ich mich aufhalte, wäre ich doch ein Kleinbürger, wie ihn der großartige Arno Schmidt beschrieben hat, der in gewisser Weise ja selber einer war: Insistent beschriebene Kleinbürgerlichkeit, die sich permanent ihres eigenen Standorts versichert, gepaart mit einer Müllhalde voll Bildungsbürgertumswissen.
Wenn Düren ein Modell ist: Haben Sie sich in Ihrem autobiografisch anmutenden Text überhaupt offenbart?
Doch, natürlich. Die Details aus dem Krankenhaus sind real. Die Zustandsbeschreibungen sind nicht erfunden, sondern exemplarisch für eine Krankheit, die Krankheit zum Tode, wie Kierkegaard sagt. Die finalen Prozesse selbst sind wahrscheinlich völlig austauschbar. Aber dann kommen doch biografische Fermente hoch, die die eigene Lebensgeschichte immer schon durchzogen haben. Ich glaube, jeder Mensch entwickelt fixe Ideen und ist von Dingen besessen, die, auch wenn sie jahrelang verborgen waren, schließlich die Oberfläche des Bewusstseins wieder durchbrechen und sich – als Erinnerung – verselbstständigen können. Bei meiner Mutter habe ich das beobachtet.
Interessant am Text ist gar nicht so sehr das Verschwinden der Mutter, sondern das, was der Erzähler erlebt.
Es geht ja immer nur um Wahrnehmungsfragen und um die Frage, wer spricht. Die Mutter lasse ich durch das Interface Ich sprechen, ein Bewusstsein, das einfach nur registriert und alles für bare Münze nimmt. Der Tod, das wissen wir doch, muss immer vermittelt sein.
Im Text ist ein Vater genannt. Wie hat Ihr wirklicher Vater auf die Erzählung reagiert?
Gut hat er reagiert. Der Text macht ja auch niemandem einen Vorwurf. Das ist vielleicht das Beängstigende daran. Einer verschwindet, klar. Aber wer sollte dafür verantwortlich gemacht werden?
Der Vater verwaltet die Liebesbriefe der Mutter, locht sie und heftet sie in einen Ordner ab.
Immerhin hat er die Briefe aufbewahrt. Abheften ist eine mögliche Umgangsweise mit dem Tod.
Ist der Tod der Mutter für Sie mit dieser Erzählung auch abgeheftet?
Nein. Das wäre zu einfach. Dann könnte ich ja nur jedem raten, eine Geschichte zu schreiben, sich für den Bachmann-Preis zu bewerben, in Klagenfurt vorzulesen und die Sache damit abzuheften.
Ist die Erfahrung des Todes Ihrer Mutter durch die Lesung eher zurückgekehrt?
Nein. Sie war und ist präsent und emotional ziemlich aufgearbeitet. Aber abgeheftet ist gar nichts. Da müsste man einen Teil des Bewusstseins auslagern. Das Hirn ist doch keine Festplatte.
Der Text ist nicht nur autobiografisch, sondern auch ziemlich artifiziell. Hilft die Konzentration auf Sprache und Zeitstrukturen bei der Verarbeitung einer Erfahrung?
Wenn man dazu in der Lage ist, einen solchen Text zu schreiben, ist die Erfahrung schon weitgehend bewältigt.
Für Ihre lautpoetische Arbeit ist es Ihnen wichtig, Grenzen einzureißen, sich zu verausgaben und den Text außer Kontrolle geraten zu lassen. Welche Grenze reißt „Muttersterben“ ein?
Eine Grenze, die fast vergessen war: mit Literatur etwas ganz Althergebrachtes zu erzeugen, nämlich Rührung.
Warum ist das Einreißen von Grenzen überhaupt wichtig?
Um sich und andere nicht zu langweilen. Es gibt so viele überflüssige Texte.
Die Langeweile hört da auf, wo man die Grenzen der Wahrnehmung neu bestimmt?
Wo man sie berührt, ja.
Dann arbeiten Sie gegen die Langeweile an.
Nein. Das allein wäre doch ein bisschen wenig, oder? Ich arbeite gegen das Verschwinden an. Aber wir haben genug Dreiecksgeschichten und Großstadtromane. Mich interessieren elementarere Sachen als die Fassade.
Dreiecksgeschichten können ganz schön elementar sein.
Kommt drauf an, wie sie gemacht sind. In der Regel sind sie alltagsverdoppelnd. Zu wenig auf die Sprache zentriert.
Und welchen Gewinn haben Sie davon, sich auf die Sprache zu zentrieren?
Erkenntnisgewinn (lacht). Eine gewisse Zufriedenheit.
Die der Preis noch befördert.
Der Preis ist erst mal eine Belastung. Sicher freue ich mich darüber. Aber man braucht auch eine ruhige Minute dafür, die ich bisher nicht hatte. Immerhin bin ich noch nicht krank geworden.
Krank?
Krank vor Stress.
Ist das Ganze so stressig?
Ich bin ja nicht als Person interessant, sondern als Medienereignis. Das darf man nicht zu persönlich nehmen. Wenn man das zu persönlich nimmt, unterhält man sich eines Tages noch mit seinem eigenen Spiegelbild als einem ganz anderen. Will heißen, man muss bei sich selbst bleiben, so gut das eben gelingen kann.
Aber erst mal ist so ein Preis doch ein großes Glück.
Er ist eine Chance, stimmt. Vor allem die Chance, einen größeren Verlag zu finden.
Woran werden Sie künftig arbeiten?
Weiter an etwas, das verschwunden ist, aber hochbrisant: das Thema Tradition, Experiment, Konvention. Diese Begriffe werden immer wieder zitiert, in den übelsten Kontexten, aus Unwissen aber völlig verdreht. Tatsächlich sind sie gar nicht auseinander zu dividieren oder gar gegeneinander auszuspielen. Es geht darum, sich auf das Handwerk zurückzubesinnen. Auf elementare Dinge. Eine Wendung vom Bezeichneten zurück auf das Bezeichnende, die Sprache. Wer denkt noch nach über die eigene Tradition und bestimmt seinen Standort?
Ihre Kollegen?
Es sind Leute zu Autoren geworden, die noch die Windeln anhatten. Von denen ist auch nicht zu erwarten, dass sie sich überprüfen oder das, was von Ödön von Horváth oder Uwe Johnson übrig ist. Traditions- und Orientierungslosigkeit ist ja kein bewusster Akt der Traditionsnegierung, sondern einer der Medien- und Marktsteuerung. Mich interessiert Tradition viel stärker als diese ganzen Zeitgeistfragen. Während sich diese Leute jahrelang mit Zeitgeistfragen aufhalten, habe ich eben andere Dinge gemacht. Zum Beispiel den ganzen Beckett gelesen oder Karl Valentin. Gertrude Stein kann ich sehr empfehlen. Die Poesie des Barock ebenso. Für den Zeitgeist habe ich keine Zeit.
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