: Existenziell anarchisch
Herber, funkelnder Charme: Die Geschichte einer sehr eigenwilligen Tanz-Performance in einer Fußgängerzone
Man hatte die Häuser weggebombt oder abgerissen. An ihrer Stelle hatte man neue gebaut und dazwischen eine Fußgängerzone eingerichtet. In deren Mitte stand eine Gruppe bunt gekleideter Bergindios im Halbkreis um ein gefesseltes Lama herum und pfiff „El condor pasa“ zum Steinerweichen.
Ab und an duckte sich einer, wenn er von entnervten Passanten mit Geldstücken beworfen wurde, und dankte. Gemütlichkeit. Frohsinn. Der herbe Charme deutscher Innenstädte entfaltete sich mit der ganzen Pracht der frisch entpuppten Missgeburt eines graubraunen Nachtschmetterlings. Mürrisch strich ich zwischen Anbietern von Küchenmaschinen, Fleckenentfernern, Arztsocken und Rostbratwürsten herum, als plötzlich ein völlig ungewohnter Anblick meine Aufmerksamkeit auf sich zog: Ein ungefähr einundvierzigjähriger Mann hatte sich inmitten des übellaunigen Gewimmels einen großen freien Kreis geschaffen und bewegte sich in eigentümlicher Schrittfolge vor und zurück, nach links und nach rechts. Manchmal auch umgekehrt – er schien da in seiner Choreografie überhaupt nicht festgelegt zu sein.
Dieses willkürliche, freidenkerische, ja existenziell anarchische, das in seinem Tun, seiner Bewegung und in seinem ganzen Ausdruck lag, faszinierte mich. Ich blieb und sah ihm länger zu. Auch andere blieben stehen und wiesen aufgeregt mit dem Finger auf ihn. Die Besonderheit, diesem sakralen Moment beiwohnen zu dürfen, wie durch ein Wunder ausgerechnet zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, war offensichtlich nicht nur mir nicht verborgen geblieben. Und immer wilder wurde die Performance, gewagter die Sprünge, beliebiger der Takt.
Schon längst hatte der Artist sein Anfangsrepertoire um eingedrehte Pirouetten und atemberaubend improvisierte Rittberger ergänzt. Dem Anlass nicht unangemessen schien er auch wie in helles Licht getaucht, was ihn fantastisch von uns Zuschauern abhob. Und rechts und links . . . und vor und zurück. Zuckend, ekstatisch, wunderschön. Ich hatte so etwas in einer Fußgängerzone noch nie gesehen. Ich hatte so etwas überhaupt noch nicht gesehen! Das wohl beeindruckendste aber waren die Schreie: Wahnsinnig intensive, kraftvolle, ja fast schon abartig zu nennende Laute stieß der Künstler wieder und wieder stakkatoartig hervor. Glänzend mit den Bewegungen abgestimmt, schienen auch die akustischen Parts keinerlei logischen Organisation zu unterliegen, waren frei, entfesselt, grandios . . .
Auf dem Höhepunkt bildete das begeistert klatschende Publikum eine Gasse, die Feuerwehr kam und löschte den Mann. Im Innersten berührt und tief bewegt ging ich langsam nach Hause. ULI HANNEMANN
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