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Kulturnation im Kleinformat

aus Erfurt und WeimarRALPH BOLLMANN

Endlich eine gute Nachricht. Jahrelang wurde in Deutschland nur über die Schließung von Theatern diskutiert, jetzt wird wieder eines neu gebaut. Die Thüringer Landeshauptstadt Erfurt, nur gegen große Widerstände zum Regierungssitz erkoren, leistet sich eine veritable Staatsoper. Gleich hinter dem historischen Domberg wächst der moderne Betonkoloss – mit 800 Zuschauerplätzen und 400 Quadratmetern Bühnenfläche ein Repräsentationsbau vom Feinsten.

Auch den passenden Intendanten haben sich die Stadtväter schon gesucht. Guy Montavon, bislang Chef des Stadttheaters Gießen, soll Erfurt aus der Theaterprovinz in die Bundesliga führen. „Neue Ideen, kühne Projekte“ kündigt der gebürtige Genfer an, der das großformatige Opernhandwerk bei dem Berliner Götz Friedrich gelernt hat. Das Haus, glaubt Montavon, könne mühelos mit dem Londoner Covent Garden oder dem Pariser Châtelet konkurrieren.

Einen kleinen Haken hat die Sache allerdings: Mit dem Ensemble des bestehenden Erfurter Theaters, das derzeit behelfsweise in einer Art Zirkuszelt spielt, sind solche Pläne nicht zu verwirklichen. Von allen Thüringer Theatern hat ausgerechnet die Hauptstadtbühne den kleinsten Klangkörper. Dagmar Schipanski (CDU), Thüringens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, muss die Kulturlandschaft des Bundeslandes kräftig umkrempeln, wenn der Traum von der Metropolenkultur Wirklichkeit werden soll.

Keine leichte Aufgabe: Die resolute Dame, die vor zwei Jahren vergeblich für das Amt der Bundespräsidentin kandidierte, hat sich für diesen Sommer nichts Geringeres vorgenommen als eine Operation am offenen Herzen der deutschen Kulturnation. Kein anderes Bundesland besitzt auf so engem Raum so viele Theater und Orchester wie Thüringen, wo die deutsche Kleinstaaterei bis 1918 ihre Triumphe feierte (siehe Karte).

Nirgends sonst gab es so viele Residenzstädte auf so engem Raum – nur Erfurt zählte als preußische Provinzstadt nicht dazu. Vom Weimarer Großherzog bis zum Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt versuchten acht Provinzpotentaten, die geringe Größe ihres Territoriums durch kulturellen Glanz zu kompensieren. In der Weimarer Republik, in der Nazizeit und im Sozialismus blieben die Ensembles bestehen – ein repräsentatives Gebäude ist für ein Theater noch immer die beste Lebensversicherung.

Heute bieten sechs Ensembles an acht Orten das volle Programm von der großen Oper bis zum kleinen Kammerspiel – und alle Theater berufen sich auf eine große Tradition. Stolze zehn Sinfonieorchester spielen für die 2,5 Millionen Thüringer. Andernorts kann eine Kleinstadt von 25.000 Seelen froh sein, wenn sie ein Kino besitzt. Im beschaulichen Meiningen hatte dieses Frühjahr sogar Wagners „Ring“ Premiere, an vier Abenden hintereinander – das hat noch keine Großstadtbühne je gewagt. Mehr als 200 Millionen Mark lässt sich die öffentliche Hand die kulturelle Rundumversorgung kosten. Das sind 82 Mark pro Einwohner – gegenüber 54 Mark im Bundesdurchschnitt.

Doch die großen Säle der pompösen Hoftheater sind an durchschnittlichen Theaterabenden nur zu 60 Prozent gefüllt, in anderen Bundesländern sind es 70 bis 80 Prozent. „Das Angebot ist eigentlich ein Überangebot“, glaubt deshalb Kunstministerin Schipanski, „wir müssen unsere Kräfte bündeln.“ Durch die Einführung des vollen Westtarifs steige der Aufwand für die 2.400 Thüringer Theaterbeschäftigten in den nächsten Jahren um 20 Prozent, während das Land seine schon jetzt überdurchschnittlichen Kulturausgaben nicht weiter erhöhen könne.

Im Bundesland mit der höchsten Theaterdichte werden jetzt exemplarisch die Probleme verhandelt, mit denen das deutsche Stadttheatersystem insgesamt konfrontiert ist: Lassen sich die Bühnen angesichts steigender Personalkosten und sinkender Steuereinnahmen noch finanzieren? Sind die deutschen Repertoiretheater, die eher auf solides Handwerk setzen als auf herausragende Events, in der Mediengesellschaft überhaupt noch zeitgemäß?

Krise auf offener Bühne

Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht irgendeine Bühne zur Disposition steht – auch im Westen des Landes. Kaum ist im fränkischen Würzburg die Schließung des Theaters vorerst abgewendet, da kündigt Niedersachsens Kulturminister Thomas Oppermann (SPD) Einschnitte bei den Staatstheatern in Hannover, Braunschweig und Oldenburg an. Schon fürchtet der Deutsche Bühnenverein eine Abwärtsspirale, weil die ständige Krisendebatte das Publikum eher abschreckt als anzieht. „Wer eine Marke verkaufen will, muss die Probleme im Hintergrund lösen“, sagt der Direktor des Verbandes, Rolf Bolwin.

In Thüringen hat sich die allgemeine Finanznot mit den neuen Ansprüchen der Landeshauptstadt und der alten Rivalität zwischen Erfurt und Weimar zu einem Knäuel verbunden, das die Ministerin nur schwer entwirren kann. Schon hagelt es Proteste allerorten: Die Erfurter Schauspieler verlesen in jeder Vorstellung eine Resolution, das Weimarer Theater hat im Foyer Solidaritätsbekundungen aus aller Welt ausgehängt, und das Theater Eisenach-Rudolstadt hat bereits mehr als 5.000 Unterschriften für den Erhalt der Bühne gesammelt. Gerade in kleinen Städten ist ein Theater mit mehreren hundert Beschäftigten nicht nur ein kultureller, sondern auch ein sozialer und wirtschaftlicher Faktor. Einschnitte sind gegen den Widerstand der Abgeordneten gar nicht durchzusetzen – es sei denn, Weimar und Erfurt müssen ebenfalls bluten. Das weiß auch Schipanski, und deshalb lässt sie bei der Theaterfusion im Herzen des Landes nicht locker.

Denn angesichts der Frage, wie sich das neue Erfurter Theater füllen ließe, richtet sich der Blick auf die Nachbarstadt. Das Deutsche Nationaltheater in Weimar besitzt alles, was die Hauptstädter bislang entbehren müssen: das größte und beste Thüringer Orchester, ein erfolgreiches Schauspielensemble, das zuletzt sogar den Bayerischen Theaterpreis einheimste – und einen Namen, den man seit den Zeiten des Geheimrats Goethe auch außerhalb der Landesgrenzen kennt.

Die Schlüsse daraus hatte schon der verstorbene Münchner Generalintendant August Everding gezogen, der als Gutachter des Deutschen Bühnenvereins vor vier Jahren die Fusion zu einem Thüringer Staatstheater Weimar-Erfurt empfahl. Der Plan scheiterte damals am Widerstand aus Weimar. Den Theaterneubau leisteten sich die Erfurter Stadt- und Landesväter trotzdem – und stellten damit die Weichen für eine Fusion im zweiten Anlauf. Sogar die Maße der neuen Bühne sind exakt mit dem Weimarer Nationaltheater abgestimmt, damit die Bühnenbilder Kosten sparend ausgetauscht werden können.

Ganz so einfach wie die Bühnenbilder werden sich Programm und Publikum allerdings nicht austauschen lassen, denn sie könnten in den beiden Städten unterschiedlicher nicht sein. Während die Erfurter Bühne mit grellbunten Plakaten für ein eher populäres Programm wirbt, enthält der dezent gestaltete Programmzettel in der benachbarten Klassikerstadt auch abseitige Stücke. Lebt das Theater der Landeshauptstadt fast ausschließlich vom einheimischen Publikum, so versammelt sich im Zuschauerraum des Weimarer Nationaltheaters das Bildungsbürgertum aus ganz Deutschland. 40 Prozent der Besucher reisen von außerhalb Thüringens an.

Die Staatstheater-Lösung

„Abgehoben“ finden viele Erfurter die kleinere Nachbarstadt. Die Hauptstädter könnten es „in ihrer Provinzialität nicht ertragen, dass Weimar viel bekannter ist“, gibt der Weimarer Intendant Stephan Märki zurück. Selbst mit Entfernungsangaben wird Politik gemacht. Märki, ein Gegner der Theaterfusion, schätzt den Abstand zwischen beiden Städten auf 25 Kilometer. Der künftige Erfurter Intendant Montavon, der das Zusammengehen befürwortet, redet von 15 Kilometern. Die Wahrheit liegt in der Mitte: Genau 20 Kilometer sind es von Innenstadt zu Innenstadt.

Um die Widerstände zu überwinden, könnte Schipanski den beiden Städten eine Brücke bauen – und für ein fusioniertes Theater die Trägerschaft des Landes anbieten. Das hatte die Ministerin bislang stets abgelehnt, doch vor drei Wochen signalisierte ihr Abteilungsleiter Rolf Lettmann einen Sinneswandel: „Es könnte sein, dass eine Staatstheater-Lösung unausweichlich ist.“

Die Weimarer können sich dann damit trösten, dass sie letztlich in Erfurt nur eine Dependance eröffnen – und das Erfurter Publikum kann mit dem neuen Haus ohnehin nur gewinnen. Scheitert aber die Fusion im Herzen das Landes, dann droht allen Thüringer Theatern der schleichende Niedergang durch langsame finanzielle Auszehrung. Dann stünde Deutschlands überkommenes System der Stadttheater womöglich als unreformierbar da – mit unabsehbaren Folgen für die hiesige Kulturlandschaft.

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