: Wahlkampf mit anderen Mitteln
In Jamaika soll jetzt eine Untersuchungskommission klären, warum in der Hauptstadt Kingston an einem Wochenende 28 Menschen erschossen wurden. Die beiden Traditionsparteien geben sich gegenseitig die Schuld am tödlichen Straßenkampf
von TONI KEPPELER
Jamaikas Premier Percival James Patterson wartete erst einmal ab, bis die Leichen beerdigt und die Straßen wieder ruhig waren. Dann kündigte er die Bildung einer Untersuchungskommission an. „Jamaika und die ganze Welt müssen wissen, was da passiert ist“, sagte er. Das nächst liegende Ergebnis aber schloss Patterson gleich aus: Mit Politik habe die dreitägige Schießerei in West Kingston nichts zu tun.
Zunächst ist nur strittig, wer angefangen hat. Die Polizei behauptet, sie sei am 7. Juli bei einer Waffenrazzia in den Armenvierteln Tivoli Gardens und Denham Town beschossen worden und habe das Feuer erwidert. Anwohner versichern, die Sicherheitskräfte hätten zuerst geschossen. Aus der Schießerei wurde eine dreitägige Schlacht, bei der mindestens 28 Menschen starben.
Polizei und Armee feuerten gnadenlos aus Panzerwagen und Hubschraubern in die Bretterbuden der Armenviertel. Die Leichen konnten erst nach vier Tagen geborgen werden. Denn wer sich ihnen vorher näherte, wurde beschossen. Die Verteilung der Todesopfer spricht für sich: ein Polizist, ein Soldat, mindestens 26 Zivilisten. Das Fernsehen zitierte einen Offizier mit den Worten: „Manchmal muss man eben auch die Entscheidung treffen, einen Menschen zu töten.“
Jamaikas Polizei tut das häufig. Schon vor dem Straßenkrieg hatte sie in diesem Jahr über 320 Menschen erschossen. Doch in Tivoli Gardens lief nicht nur eine schießwütige Sicherheitstruppe aus dem Ruder. Gemordet wird dort schon seit April, als der Führer einer bewaffneten Bande erschossen wurde. Seither liefern sich die Gangs in West Kingston regelmäßig Schießereien. 40 Menschen starben dabei schon vor dem 7. Juli.
Solche Schlachten haben in Jamaika immer einen politischen Hintergrund. Zwar widmen sich die Banden dem Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten, sie verstehen sich aber auch als bewaffneter Arm einer der beiden Traditionsparteien. Die „Nationale Volkspartei“ und die „Jamaikanische Arbeiterpartei“ bauten die Gangs Anfang der 70er-Jahre auf. Beide Parteien waren Ende der 30er-Jahre aus den Gewerkschaften entstanden. Die Volkspartei war lange die radikalere, orientiert an der Labour Party der Exkolonialmacht Großbritannien. Die Arbeiterpartei war eher gemäßigt sozialreformerisch. Inzwischen beugen sich beide dem neoliberalen Diktat von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Unterschiede sind kaum zu erkennen.
Doch Wahlen wurden in Jamaika noch nie mit Programmen entschieden. Politik ist Sache der höheren Mittelschicht, die die Masse ihrer armen Wähler mit staatlichen Jobs und Sozialprogrammen bedient. In den 70er-Jahren kam dazu der Wahlkampf mit der Waffe. Seitdem schüchtern beide Parteien mit Schießtrupps die Anhänger des politischen Gegners ein.
Höhepunkt war der Wahlkampf 1980 mit 800 Toten. Damals gewann Edward Seaga von der Arbeiterpartei. Heute ist er Oppositionsführer und Abgeordneter von West Kingston, einer Hochburg seiner Partei. Auch der jetzige Premier Patterson von der Volkspartei verdankte seinen Sieg 1997 der Gewalt. Alle Umfragen hatten auf einen Wahlsieg Seagas gedeutet. Aber dann brachen ähnliche Unruhen aus wie am 7. Juli. Seaga sank in der Wählergunst.
2002 wird wieder gewählt. Die Volkspartei machten auch gleich Seaga für den Straßenkrieg verantwortlich. Er habe damit vorgezogene Wahlen erzwingen wollen. Die Wirtschaft der Karibikinsel hat sich gerade von einer mehrjährigen Rezession erholt. Der Aufschwung hätte Patterson zur Wiederwahl verhelfen können. Damit ist nun erst einmal Schluss. Die Touristen, die für fast die Hälfte der Deviseneinnahmen und ein Viertel aller Arbeitsplätze sorgen, bleiben aus. Der Tourismusverband rechnet mit einem Einbruch von bis zu einer Milliarde Mark. Pattersons Chancen sinken.
Seaga behauptet, die Volkspartei habe die Unruhen geschürt. Seine Wähler in West Kingston sollten eingeschüchtert und als wild um sich schießende Vandalen vorgeführt werden. Auch das ist plausibel. Doch Patterson hat der Untersuchungskommission mit auf den Weg gegeben: „Politisch motivierte Auseinandersetzungen mit Waffengewalt gab es in den 70er-Jahren. Das ist Vergangenheit.“
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