: Keine Risikoselektion
Wir brauchen gesetzliche Sozialversicherungen, in die jeder einzahlt: auch Beamte, Selbstständige, gut Verdienende. Das erledigt die Debatte um die „Lohnnebenkosten“
Wirtschaftsminister Müller will den Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung abschaffen und diesen „Lohnbestandteil“ den Versicherten auszahlen, damit sie privat vorsorgen können, indem sie etwa kapitalgedeckte Krankenversicherungen abschließen. Ein undurchdachter Vorschlag: Das Geld, das für die Kapitaldeckung angespart wird, würde bei den gesetzlichen Krankenversicherungen fehlen. Gleichzeitig werden die Leute aber weiterhin krank – also müssten die Beiträge für mehrere Jahren stark steigen.
Trotz der Mängel im Detail hat Müller aber dazu beigetragen, eine wichtige Diskussion zu eröffnen. Sein Vorschlag würde nämlich dazu führen, die Versicherung gegen große Lebensrisiken vom abhängigen Beschäftigungsverhältnis „abzukoppeln“. Am Ende stände ein neues System der sozialen Sicherung, die am einzelnen Menschen und nicht mehr an Arbeitsverhältnissen ansetzt. Diese Grundidee von Müller findet sich – in systematischer Weise – auch im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Grünen. Dort werden für Krankheit, Pflege und Alter umfassende „Bürgerversicherungen“ skizziert, was die Sozialversicherungen wieder „auf ein möglichst breites Fundament“ stellen würde. Diese Idee ist freilich ebenso gut wie schwer durchzusetzen, denn sie widerspricht – zumindest auf den ersten Blick – liberalen Grundideen. Ein erster Schritt, nämlich die Rentenversicherungspflicht aller Selbstständigen, gehört zur Koalitionsvereinbarung. Riester und Schröder denken aber nicht mehr daran, dies noch anzugehen. Es war für sie schon anstrengend genug, die 630-Mark-Jobs in die Kranken- und Rentenversicherung einzubeziehen. Wichtige Ideen setzen sich langfristig durch – deswegen dürfte selbst ein so verquerer Vorschlag wie der Müller’sche weiterführend sein.
Die umfassende „Bürgerversicherung“ gegen Krankheit muss kommen. Sind nicht alle Bürger in einem gesetzlich vorgeschriebenen System der Krankenversicherung eingegliedert, kommt es zu einer „Risikoselektion“: Wer von Anfang an weniger gesund ist oder im Laufe der Zeit kränker wird, der sammelt sich in der staatlich organisierten Krankenversicherung – während diejenigen, die Glück gehabt haben, sich zu niedrigen Beiträgen absichern. Genau diese Selektion ist in Deutschland seit langem zu beobachten und ist nicht nur ungerecht, sondern verursacht unnötige Verwerfungen am Arbeitsmarkt. Da neben Beamten (für die das „Beihilfesystem“ gilt) und gut verdienenden Arbeitnehmern (jenseits der „Versicherungspflichtgrenze“) nur Selbstständige nicht krankenversicherungspflichtig sind, entsteht ein Anreiz, durch „Scheinselbstständigkeit“ der Versicherungspflicht auszuweichen.
Eine Bürger-Krankenversicherung würde bedeuten, dass jeder Erwachsene sich (und seine Kinder) krankenversichern muss. Da Krankeit und Pflegebedürftigkeit im Zweifel schwer zu trennen sind, sollten beide Gefahren in einer einzigen Versicherung abgedeckt werden.
Es darf aber keine Einheitsversicherung sein. Die Bündnisgrünen schreiben zu Recht, dass nur mehr Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen die Kosten im Gesundheitswesen senken wird. Damit die Konkurrenz funktioniert, muss den Kassen aber erlaubt sein, nicht jeden Arzt und jedes überteure Krankenhaus unter Vertrag zu nehmen – das bedeutet eine Entmachtung der kassenärztlichen Vereinigungen. Bis heute verhandeln nur sie mit den Kassen und sorgen anschließend wie ein Kartell dafür, dass jeder Arzt, auch der weniger gute und der Verschwender, seine Schnitte vom ausgehandelten Honorarkuchen bekommt. Allerdings war es für die Kassen auch bequem, dass sie bisher unangenehme Vertragsverhandlungen mit Ärzten und Krankenhäusern vermeiden konnten. Zu befürchten ist, dass sie auch künftig dieser Last ausweichen – indem sie sich auf die Suche nach „guten Risiken“ machen (also möglichst gesunden Versicherten). Um dies zu verhindern, muss ein Wettbewerbssystem einen umfassenden Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen anstreben. Müller sieht dies nicht vor. Deswegen sollte man seinen Vorschlag im Detail gar nicht weiter diskutieren.
Ist es sinnvoll, wie die Grünen zu fordern, dass es auch für das Alter eine Bürgerversicherung gibt? Zeigt die Riester-Rente nicht, dass man mehr Freiheiten gewähren sollte? Das Alter ist ein beachtliches finanzielles Risiko. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen das Einkommensrisiko im Alter unterschätzen, insbesondere kleine „neue“ Selbstständige. Eine Versicherungspflicht ist daher angezeigt.
Würde man alle Erwachsenen – also nicht nur Erwerbstätige, sondern alle Wohnbürger – einer Versicherungspflicht für Krankheit und Alter unterwerfen, wäre dies gerecht und würde die kontraproduktive Suche nach Lücken in der Beitragspflicht verhindern. Auch die Diskussion über „Lohnnebenkosten“ wäre dann erledigt, da die Versicherungspflicht an Personen und nicht mehr an bestimmte Arbeitsformen gebunden wäre. Hier hat Müller Recht.
Bleibt als letztes großes Absicherungsproblem die Arbeitslosigkeit. Gegen sie sind nur abhängig Beschäftigte versichert. Aber müssten Selbstständige und Beamte nicht auch einbezogen werden? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten.
Viele Selbstständige sind ohnehin gegen ein Scheitern „sozial“ abgesichert, da Betriebsformen mit beschränkter Haftung (etwa die GmbH) dazu führen, dass nach einem Konkurs nicht lebenslang Schulden abgestottert werden müssen. Im Gegenteil: Der Bankrott ermöglicht einen frischen Start. Daher wird er gelegentlich missbraucht. Noch größer wäre diese Gefahr, wenn gescheiterte Selbstständige auch noch ein „Arbeitslosengeld“ erhielten. Allerdings gibt es auch gegenteilige Erfahrungen: So hat Dänemark eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige – ohne dass über Missbrauch geklagt würde.
Auch Beamten in die Arbeitslosenversicherung einzubeziehen, wäre gerechtfertigt. Denn Beamte sind nicht, wie ihre Vertreter gerne behaupten, keinerlei Arbeitslosigkeitsrisiko ausgesetzt, sondern zu 100 Prozent dagegen gesichert: Sie werden auch dann vom Staat alimentiert, wenn ihre Tätigkeit überflüssig ist. Sie können sogar weiter befördert werden – und haben, so gesehen, sogar eine mehr als 100-prozentige Absicherung.
Alles in allem: „Bürgerversicherungen“ sollten sich auf Rente, Krankheit und Pflege konzentrieren. Für das Pflegerisiko haben wir in Deutschland ohnehin nahezu eine „Volksversicherung“. Man darf gespannt sein, ob in der nächsten Legislaturperiode auch die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden – eigentlich steht dies auf der Agenda der rot-grünen Koalition. Und die unumgängliche Verbesserung des Risikoausgleichs zwischen den Krankenkassen könnte in eine Diskussion münden, ob man die privaten Krankenversicherungen nicht berücksichtigt. Dann hätten wir schon fast eine Bürgerversicherung gegen Krankheit. GERT G. WAGNER
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