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Nadelstiche gegen Konsum

Die Ambulanz für integrierte Drogenhilfe in Berlin-Neukölln sucht neue Wege bei der Versorgung von Langzeitsüchtigen. Sie setzt auf Akupunktur und liegt daher im Clinch mit den Krankenkassen

von HEIKE KLEFFNER

Klaus ist ein Ausnahmepatient. Seit einem Vierteljahrhundert konsumiert er Drogen – die wenigsten davon sind legal erhältlich. Bis vor wenigen Jahren hatte er immerhin noch einen festen Job als Maschinenführer, eine eigene Wohnung und eine Freundin. Beinahe emotionslos erzählt der Mann mit den grauen Bartstoppeln und dem blondierten Kurzhaarschnitt: vom Konsum – mindestens fünf Gramm Heroin am Tag; vom Dealen am Hamburger Hauptbahnhof – „anders kannst du das irgendwann nicht mehr finanzieren“; von Knast, Entzügen, Rückfällen, Selbstmordversuchen. Und den vielen toten Freunden.

Ein klassischer Weg, und trotzdem ist Klaus eine Ausnahme, sagt sein Arzt Christian Jellinek. Nur knapp die Hälfte seiner über einhundert Patienten in der Ambulanz für integrierte Drogenhilfe (AID) in Berlin-Neukölln ist jemals einer geregelten Arbeit nachgegangen. Die allerwenigsten haben noch Kontakt zur Familie. 30 Prozent von ihnen sind HIV-positiv, mehr als 95 Prozent haben eine chronische Hepatitis. Fast alle werden mit Methadon substituiert.

Bei der Frage, ob die in Berlin seit 1987 legal und unter strikten Auflagen erhältliche Ersatzdroge das Leben von Klaus verlängern oder gar erleichtern wird, will sich der zwei Meter große Arzt im leuchtend orangenen Hemd – anstelle des weißen Kittels – nicht festlegen. Für ihn steht nach zehn Jahren Drogenarbeit fest, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Methadon-Substitution zu groß sind. Der Erfolg könne nur so hoch sein „wie die gesellschaftliche Bereitschaft, die unterstützenden Maßnahmen zu finanzieren“.

Bei der Suche nach neuen Wegen zur Behandlung von chronisch Drogenabhängigen gehören der 45-Jährige und seine Kollegin Gabi Bellmann von Berlins zweiter Ambulanz, der AID Kreuzberg, zu den Pionieren in Deutschland. Als einer der Ersten führte der Arzt die „5-Punkt-Ohr-Akupunktur“ zum ambulanten Entzug ein. Die hatten Aktivisten der radikalen Black Panther in den 60er-Jahren von ihren Reisen nach China in die USA mitgebracht: Sie nutzten die einfache Form der Akupunktur zur Behandlung Süchtiger in den afroamerikanischen Ghettos.

Jellinek fühlt sich dem ursprünglichen Ansatz verbunden: Die Eigenverantwortung der Betroffenen zu stärken und möglichst viele Freiwillige auszubilden. In der AID Neukölln treffen sich täglich morgens und nachmittags bis zu zehn Klienten mit ehemaligen Usern zur Ohr-Akupunktur. Alle Beteiligten bleiben anonym; ihre Sucht ist längst nicht nur auf „illegale“ Drogen beschränkt.

Auch in einem zweiten Feld setzen Jellinek und sein sechsköpfiges Team, das im zweiten Stock durch die sechs Beraterinnen und Psychologinnen der Psychosozialen Betreuung vom Drogennotdienst verstärkt wird, auf chinesische Heilkunst, um die Verträglichkeit von schulmedizinischen Medikamenten zur HIV- und Hepatitis-Behandlung zu verbessern. Gerade erstellt das Team eine Studie der Pharmaindustrie, um die positiven Erfahrungen mit den Nadeln wissenschaftlich untermauern zu können.

Jellinek zeigt auf die Tafel mit den unzähligen Akupunkturpunkten am menschlichen Körper und betont, dass auch die emotionale Stabilität der Klienten steige, wenn die sich auf Nadel-Sitzungen einlassen. Gerade bei „polytoxikomanen“ Patienten wie Klaus seien die Ergebnisse durchaus positiv. Die, je nach politischer Großwetterlage, auf 6.000 bis 12.000 geschätzten Abhängigen in Berlin, die mehr als drei verschiedene Substanzen mixen, stehen an der Spitze der Sorgenkinder. Unter ihnen häufen sich die Todesfälle. Und sie sterben immer jünger.

Nebenbei würde bei einer vernünftigen Begleitung auch langfristig noch Geld gespart, betont Jellinek. Er will die Freiheit, westliche und östliche Medizin zum Wohl seiner Patienten zu nutzen. Anders als in den USA sträuben sich deutsche Ärzteverbände und Krankenkassen aber noch, Akupunktur angemessen zu bezahlen und als eigenen Ausbildungstitel anzuerkennen. Zwar bleibt daher manche Rechnung unbezahlt, aber das nimmt Jellinek in Kauf.

Zwischen 30.000 und 50.000 Mark kostet die Behandlung eines an chronischer Hepatitis Erkrankten, bei AIDS können die Behandlungskosten leicht 70.000 Mark jährlich übersteigen. Da verwundert es kaum, dass die Kassenärztliche Vereinigung für das letzte Jahr rund 290.000 Mark Regress von der AID fordert – wegen Überschreitung des Arzneimittelbudgets der Praxis.

Eine Zahl, die Jellinek mit den breiten Schultern zucken und aufstöhnen lässt – er sei ohnehin schon ein Drittel seiner Zeit mit Verwaltungskram beschäftigt. Nun muss er jeden einzelnen Patienten und dessen Behandlung erneut dokumentieren und hoffen, mit seiner Beschwerde gegen die Regressforderungen erfolgreich zu sein. Etwas Gutes kann er dem Papierkrieg aber auch abgewinnen: Dadurch würden seine Kollegen und er gezwungen, sich ständig neue Gedanken über Therapien zu machen. Außerdem sei eine gewisse Kontrolle angesichts der hohen Summen durchaus notwendig.

Sorgen bereiten dem AID-Team die zunehmende Verelendung und psychischen Störungen der meisten Patienten. „Sie sind schwer traumatisiert“, hat die Psychologin Elke Rasche beobachtet. Doch die wenigsten Psychotherapeuten behandeln Drogenabhängige. Hier seien dringend neue Angebote und Finanzierungsmodelle gefragt. Der Arzt und die Psychologin verweisen beide darauf, dass die Versorgung in Berlin zwar verhältnismäßig gut ist, trotzdem ist die Wunschliste lang: Sie reicht von Beschäftigungsmöglichkeiten für chronisch Abhängige über eine spezielle Einrichtung für Minderjährige bis hin zum ersten Altersheim für ältere Methadon-Substituierte. Besorgt sind beide auch über die jüngsten Pläne der Bündnisgrünen zur Privatisierung der Krankenversicherung: „Dann fallen unsere Klienten aus allem raus“.

Damit es gar nicht erst so weit kommt, sitzen Jellink und Pasche in regionalen Verbänden, werben um Verständnis für ihre Klienten in der Nachbarschaft und reden mit Politikern aller Parteien. Auch über Präventionskonzepte: Am liebsten würden sie Schulklassen zu Diskussionen mit gefestigten Ex-Usern einladen. „Niemand wird aus Neugier süchtig“, ist der Arzt überzeugt. „Es gibt immer einen persönlichen Grund, der vor der Sucht steht.“ Der würde viele User auch wieder einholen, wenn sie nüchtern seien. Deshalb sei eine psychosoziale Betreuung Tür an Tür mit den Medizinern notwendig.

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