Treibgut schlägt auf

Hoppla, hier kommt er, und hinter ihm gleich ein Schwall Scheiße: In Les Bernsteins dreckig grauem Debütfilm „Night Train“ hat das ambitionierte B-Movie einen hoffnungsvollen Vertreter gefunden

von ANDREAS BUSCHE

Joe Butcher steckt in einem Körper, der all die schlechten Seiten seines schwachen Geistes nicht verbergen kann. Dieser Mitleid erregende Leib trägt die meiste Zeit ein T-Shirt, dessen Aufdruck geradezu wie ein Hilfeschrei wirken muss: „I love to cuddle“. Er will kuscheln, er will Liebe, kriecht aber permanent im Straßenstaub.

Joe Butcher ist ein versoffenes Wrack, ein Fast-Food-Amerikaner, Trailerpark-Kandidat und Dauerschwitzer und auch sonst kein Mensch, mit dem man sich länger als fünf Minuten im selben Raum aufhalten möchte. Summa summarum also: kein Gewinnertyp. Die ganze Geschichte seines Versagens ist seiner Physiognomie eingeschrieben, vom Bierbauch bis zur Hackfresse. Und der Name trifft’s wie ein Passfoto: Hoppla, hier kommt er, der grobschlächtige Metzger, und hinter ihm gleich ein Schwall Scheiße.

Wie zur Bestätigung spiegelt sich Joes Leben dann in einer sehr einfühlsamen Sequenz im Spülwasser einer Kloschüssel wider, die er zuvor reichlich bedient hat. Das könnte jetzt seitenlang so weiter gehen. John Voldstad ist einfach unfassbar als Joe Butcher, dem Mann, der jegliche Kontrolle über seine Körpergeräusche verloren hat. Er schnaubt, rülpst, ächzt, schnarcht, kotzt, rotzt, krächzt, hustet, und diese erschütternde Geräuschkulisse ist die adäquate Begleitmusik für eine Geschichte von Tod, Krankheit und Versuchung, Verachtung, schmierigem Sex und einer Reihe düsterer Snuff-Film-Morde. Die Todessymbole verketten sich im Grenzland Mexikos zu einer Moritat der Verderbnis. Leben und Sterben in Tijuana.

Die Grundstimmung in Les Bernsteins Debütfilm „Night Train“ entspricht in etwa der Farbgebung seiner Bilder: zwischen dreckig grau und schwarz wird jede Tonierung erreicht, die der Film Noir seit den frühen 50er-Jahren vorgegeben hat. Kurzzeitig verschwinden die Charaktere in tiefer Schwärze – und das ist meistens auch besser so. Joe Butcher schlägt in Tijuana auf wie ein Stück menschliches Treibgut. Und davon hat die mexikanische Grenzstadt, dieses Zerrbild der USA, auch schon vor seiner Ankunft mehr als genug gehabt. Die Straßen sind voll davon, und Joe fügt sich auf der Suche nach dem Mörder seines Bruders bruchlos in den Strom der Verdammten ein; irgendwie könnte er sogar ihr Anführer sein. Eine Armee von Untoten.

„Wie soll bitte auf dieser Straße jemand von einem Auto angefahren werden“, fragt Joe nach seiner Ankunft in Tijuana seinen Schatten Sam, einen Resident Schmock, „wenn sich hier keiner schneller bewegt als eine Landschildkröte?“ Mit Lakonie kommen die Charaktere in „Night Train“ meistens weiter – zumindest rettet es sie bis zum nächsten Tag. Und wenn gar nichts mehr hilft, legen sie sich gleich selbst in die Kiste. „There is a hell – and it’s right here.“

Bei so viel Dräunen und Todesschwadronieren darf man aber keinesfalls die witzigen Seiten von „Night Train“ vergessen. Der spritzige Humor erstreckt sich aber allenfalls bis auf Toilettendeckelhöhe. Weil Joe den Schlüssel seines Bruders zur Sicherheit in seinem Magen verwahrt hat, kostet es ihn einige Mühe, wieder an das wertvolle Stück heranzukommen.

Da aber alles Hängen und Würgen ohne Erfolg bleibt, bleibt ihm schließlich nur der beherzte Griff ins Klo. Nach einem reibungslosen Stuhlgang. Das ambitionierte B-Movie hat in „Night Train“ einen seiner hoffnungsvollsten Vertreter der Neunziger gefunden. Bernstein arbeitet bereits seit Mitte der Achtziger als – wie es im Branchenjargon wohl heißt – „visual effect cinematographer“ an Hollywood-Großproduktionen wie „Ghostbusters“, „Fight Club“ und „Dante’s Peak“; man kann sich das Gefühl der Befreiung also vorstellen, das ihn bei der Arbeit an „Night Train“ beflügelt haben muss. Er lässt alles raus. Für Joes Zustand der physischen und mentalen Zersetzung findet er die schönsten halluzinogenen Bilder zwischen Mary Shelleys Frankenstein, Dr. Caligari und Hitchcocks „Spellbound“, die wie ein großer mentaler Fuck-up arrangiert sind. „What the fuck was that?“, entfährt es da nicht nur Joe Butcher. Diese Zwischenzustände pflegt Bernstein mit großer Sorgfalt, bis es Joe beim Anblick des ersten Snuff-Films dann wirklich die Tränen in die Augen treibt. Mit einer Moral sollte man deswegen natürlich noch lange nicht rechnen.

„Night Train“. Regie: Les Bernstein, USA 99, 80 Min., OF, 2. 8. bis 8. 8., 20 Uhr im Kino Eiszeit, Zeughofstr. 20, Kreuzberg