: Strikte Sittengesetze und gesundes Volksempfinden
Das Schwule Museum in Kreuzberg widmet sich in seiner neuen Ausstellung den 50er-Jahren in der Bundesrepublik. Die obersten Verfassungsrichter sprachen den Homosexuellen noch jeglichen Familiensinn ab. Stattdessen nahm die Polizei aufs Schärfste das „Strichjungen-Unwesen“ ins Visier
„Einmalig dürfte die Tatsache sein, dass sich Männer, die im öffentlichen Leben stehen und sich bereits [...] einen Namen gemacht haben, öffentlich zu ihrer homosexuellen Anlage bekennen und den Mut aufbringen, als Vertreter einer sexuellen Minderheit gegen einen mächtigen Gegner vorzugehen“, steht in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1952, nachzulesen in der Ausstellung „Die Homosexuellengruppe“ im „Schwulen Museum“ Berlin. Einer Einrichtung, die nach eigenen Angaben den „Befreiungskampf“ der Homosexuellen in der Bundesrepublik in den 50er-Jahren vor allem um die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 175 dokumentiert.
Gerade in diesen Tagen findet die aktuelle Ausstellung eine besondere Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund, dass seit gestern auch lesbische und schwule Paare vor das Standesamt treten können. Die 50er-Jahre seien für viele Homosexuelle eine Zeit neuer Hoffnungen auf Entkriminalisierung und Abschaffung des von den Nationalsozialisten verschärften Paragrafen 175 gewesen, betonen die Ausstellungsmacher. „Diese wurden mit der Restaurationspolitik unter Konrad Adenauer nicht erfüllt; vielmehr gab es in den 50er-Jahren ebenso viele Ermittlungsverfahren wegen des Paragrafen 175 wie während der Nazi-Zeit.“ Bis 1969 war Homosexualität unter Männern strafbar. Erst 1994 fiel im wieder vereinten Deutschland der „Schwulen-Paragraf“ und wich dem geschlechtsneutral formulierten neuen Paragrafen 182 über den sexuellen Missbrauch von Jugendlichen.
Ab Mitte der 50er-Jahre hatte sich das polizeiliche Vorgehen gegen Homosexuellen-Treffpunkte vor allem in Berlin noch verschärft, wobei insbesondere das „Strichjungen-Unwesen“ ins Visier genommen wurde. Ein Berliner Kripochef meinte 1955 dazu, dieses Problem sei vor 1933 „kriminologisch wenig beachtet“ worden. „In der Nazizeit wurden die Strichjungen kurzerhand ins KZ gebracht“, hieß es weiter in dem Zeitungsbericht. „Die Berliner Kripo, die nun etwas tun muss, steht daher auf einem Neuland.“
Im Vergleich zu Westdeutschland hatte Westberlin – schon damals eine Hochburg der Homosexuellen – seinerzeit die höchste Mordrate an Homosexuellen und die niedrigste Aufklärungsrate. Noch 1957 zeigten sich die höchsten Verfassungsrichter in der Bundesrepublik nicht davon überzeugt, dass Homosexuellen in der Gesellschaft gleichrangige Rechte zustehen sollten. Statt zu Familiensinn und Dauerbeziehungen würden homosexuelle Männer zur Gruppenbildung und häufigem Partnerwechsel neigen.
Auch die Strafbestimmungen des Paragrafen 175 seien nicht verfassungswidrig. Die Richter beriefen sich dabei, wie Andreas Pretzel in seiner Broschüre zur Berliner Ausstellung betont, auf „das Sittengesetz“ und zitierten ein „gesundes Volksempfinden“.
DPA
Schwules Museum, Mehringdamm 61,bis 18. 11., tgl., außer Dienstag,14 bis 18 Uhr, Sa bis 19 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen