: Systemfehler
Statt eine Gesundheitsreform zu diskutieren, die den Patienten nutzt, wollen Regierung und Opposition nur den Haushalt entlasten. Bezahlen müssen dafür die Kranken
Ein Aufenthalt im Krankenhaus gehört inzwischen in die Kategorie „Risikogesellschaft“. Rund 500 Milliarden Mark geben die Deutschen jährlich für Gesundheit aus. Dennoch ist die Versorgung von chronisch Kranken oft schlecht. Eine Versichertenbefragung des Zentrums für Sozialpolitik (Universität Bremen) ergab im Jahre 2000, dass knapp 30 Prozent der Patienten nicht mehr die Medikamente verordnet bekamen, die sie ein Jahr zuvor noch erhielten. Das sind erste Auswirkungen einer marktorientierten Erosion der solidarischen Gesundheitsversorgung.
Es trifft vor allem die Armen, die für Krankheiten anfälliger sind und die im Gesundheitswesen schlechter versorgt werden. Aber nicht nur sie, sondern alle Patienten fangen an, den Ärzten in einem Gesundheitssystem zu misstrauen, in dem zunehmend kommerzielle Interessen dominieren.
„Unser Prinzip muss auch im Gesundheitswesen sein, Freiheit und Selbstbestimmung mit dem Prinzip der sozialen Verantwortung zu verbinden“, verkündete Exgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) am Wochenende, um für mehr Eigenbeteiligung der Patienten zu plädieren. Wirtschaftsminister Werner Müller hatte zuvor für den Ausstieg aus der solidarischen Krankenversorgung zugunsten einer privaten Vorsorge plädiert. Denn da die Menschen immer älter werden, glaubt Müller, dass die Gesundheitskosten im Alter dramatisch zunehmen müssten. Im Kanzleramt schätzt man gar, dass neue, teure Behandlungsverfahren die Behandlungskosten je Versicherten „durchschnittlich um bis zu 26 Prozent steigen lassen“. So wird der Boden vorbereitet für einen neoliberalen Systemwechsel: Die Gesundheitsversorgung soll in solidarisch bezahlte Grund- und privat zu tragende Wahlleistungen aufgespalten werden.
Die neoliberale Vision ist so brutal wie ihr intellektuelles Niveau dürftig. Anders als in den USA oder Schweden gibt es hierzulande nicht einmal eine empirische Forschung zu der Frage, ob das Älterwerden eines Menschen auch heißt, dass er öfter krank wird. Die meisten wisssenschaftlichen Studien in den USA sprechen dagegen. Ihnen zufolge geht die steigende Lebenserwartung mit einem Zuwachs an gesunden Jahren einher – lediglich zum Lebensende hin nimmt die Häufigkeit der Krankheiten zu. Dies trifft aber noch nicht mal für alle älteren Menschen zu. Einer rot-grünen Bundesregierung sollte zu denken geben, dass ein 75-Jähriger aus der Oberschicht gesünder sein kann als ein 30-Jähriger aus der Unterschicht.
Zweifelhaft ist zudem die These, dass die Gesundheitskosten durch den medizinisch-technischen Fortschritt explodieren. Denn: Bessere Diagnostik dank neuer technischer Hilfsmittel könnte dazu führen, dass Krankheiten früher zu erkennen und daher auch kostengünstiger zu behandeln sind.
Zornig macht die Beschneidung der solidarischen Krankenversorgung auch, weil bisher alle Bundesregierungen sinnvolle Einsparmöglichkeiten im Gesundheitswesen blockiert haben oder achselzuckend zuließen, dass sich Lobbys großzügig bedienen. Dies ist unter der rot-grünen Bundesregierung nicht anders. So gibt es viele Pharmaunternehmen – nach groben Schätzungen etwa 30 Prozent von mehr als 500 Herstellern –, die kein einziges Produkt verkaufen, das regulär nach dem Arzneimittelgesetz zugelassen wäre. Die Pharmaindustrie hat erreicht, dass zigtausende Arzneimittel ohne Wirksamkeits- und Sicherheitsnachweis bis zum Jahre 2004 vertrieben werden dürfen. Mit rund 7 Milliarden Mark verursachen sie mit diesen Medikamenten mehr als ein Drittel der Kosten im verschreibungs- und erstattungspflichtigen Sektor der gesetzlichen Krankenkassen. „Weder Ärzte noch Apotheker, schon gar nicht Politiker und verantwortliche Bundes- und Landesminister erheben ihre Stimme gegen diese gesundheitsschädigenden Potenziale oder tun gar etwas dagegen“, klagt Peter Eckert, der bis zu seiner Pensionierung in einem Pharmakonzern für Arzeimittelsicherheit verantwortlich war.
Welche erbärmliche Rolle Politiker in der Gesundheitspolitik bisher spielten, zeigt das Schicksal der „Positivliste“. Bereits das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 hatte Ärzten und Krankenkassen die Aufgabe übertragen, eine Liste qualitätssichernder, verschreibungsfähiger Arzneimittel zu erstellen. Diese Positivliste sollte ab 1996 gelten und war unter Fachleuten konsensfähig. Exgesundheitsminister Horst Seehofer war sich dennoch nicht zu schade, eine geschredderte Version der Positivliste einem Lobbyisten der pharmazeutischen Industrie zu übergeben und sie aus dem Gesetz zu streichen. Auch unter Rot-Grün ist die erneut geplante Positivliste faktisch verschoben worden.
Den „Schwarzen Peter“ für die Reformblockade im Gesundheitswesen bekommen jetzt die Kassenärztlichen Vereinigungen zugesteckt. Wirtschaftsexperte Bert Rürup will sie entmachten, damit die Krankenkassen gezielt mit einzelnen Ärzten und Krankenhäusern Verträge abschließen können. Und Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sekundiert ihm dabei: Zerschlagt die Kassenärztlichen Vereinigungen, weil sie wie ein Kartell wirken (taz v. 24. 7.). Solche Vorstöße übersehen, dass der Wildwuchs von bilateralen Vertragsbeziehungen eine flächendeckende Qualitätssicherung für alle Patienten verhindern würde. Stadtteile mit überdurchschnittlich vielen Armen, ländliche Gebiete, aber auch chronisch Kranke wie Altersdiabetiker werden dabei zu kurz kommen. Allerdings haben die Kassenärztlichen Vereinigungen lange Zeit eine qualitätsorientierte Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Behandlung torpediert und primär verteilungspolitische Interessen bestimmter Arztgruppen vertreten. Eine Reform der Kassenärztlichen Vereinigungen ist sicher nötig, ihre Zerschlagung wäre jedoch kontraproduktiv. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollten sich künftig auf ihre ärztliche Kompetenz konzentrieren, damit die Menschen besser medizinisch versorgt werden. Und das Kassieren für die Ärzte sollte anderen übertragen werden.
Vergessen wir nicht: Der in Deutschland als zukunftsträchtig propagierte Neoliberalismus im Gesundheitswesen hat seine Zukunft bereits hinter sich, wie die Verhältnisse in den USA zeigen. Dort sind die Ausgaben im Gesundheitssektor weltweit die höchsten und dennoch rund 40 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung. Weniger bekannt ist, dass im Mutterland der Deregulierung sogar die Verwaltungskosten im internationalen Vergleich eine Spitzenstellung einnehmen und Rechtsanwälte und Versicherungsgesellschaften zu den wenigen, dafür großen Gewinnern zählen. Es gibt kaum einen Sektor in den USA mit einer schlechteren Kundenzufriedenheit. Unter den Besserverdienenden wächst die Sehnsucht nach einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis, wie kürzlich das Wall Street Journal berichtete. Das bleibt jedoch – systembedingt – eine Illusion und sollte uns eine Warnung sein. INGO ZANDER
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