: Und, bitte, keinen Sachsenschnitt
Läuft im Frisörladen Techno, kann es beim Haareschneiden schnell zur Katastrophe kommen. Eine Kurzgeschichte
Es war wieder so weit, ein halbes Jahr hatte ich mich widersetzt, aber jetzt war es nicht länger hinauszuzögern. Ich kam einfach nicht damit klar, nichts mehr zu sehen. Und was mir die Sicht verdeckte, waren meine eigenen Haare. Vor dem Computer benutzte ich schon zwei dicke Strohhalme zum Durchgucken. Aber im täglichen Leben war ich hilflos.
Zum Glück fand ich mich in meiner Gegend auch blind zurecht. Bis zur Ecke konnte ich mich bei der Oma einhaken, das dauerte zwar ziemlich lange, war aber zuverlässiger als jemanden nach dem Weg zu fragen. Vor allem hatte sie nichts dagegen, weil sie es gar nicht merkte, sie ging da schon seit Jahren im Kreis und zahlreiche Hunde waren an ihr festgebunden worden.
An der Ecke stieg ich ab und folgte dem Geruch zur Koofie, wie wir es früher genannt haben. In der Kaufhalle griff ich immer in dieselben Regale und freute mich, wenn sie wieder umgebaut hatten, dann gab es mal was anderes zu essen. Nicht immer nur Salzgurken, auch mal Paniermehl. Die Methode, mich von den lästigen Entscheidungen zu befreien, hatte ich schon eingeführt, als ich noch sehen konnte. Zurück fand ich leicht, und wenn nicht, dann waren die Leute zu höflich, um mich darauf hinzuweisen, dass ich gar nicht bei ihnen wohnte. Bei manchen von ihnen habe ich so ein paar angenehme Wochen verbracht. Man schlägt Behinderten nichts ab. Ich hatte mehr Sex als je im Leben. Aber jetzt ging die Bundesliga wieder los, und ich wollte dabei sein.
Ich musste also dringend zum Frisör. Natürlich ging ich zu einem Szenefrisör, denn ich wollte ja eine Frisur mit Pfiff. Der in der Stargarder war schon im Fernsehen und an den Haarschneiderinnen war immer was Neues zu entdecken. Sie wurden allgemein gesprochen immer brauner im Gesicht; die, die das noch konnten, auch dicker. Sie hielten sich mit Energy-Drinks auf den Beinen, das war auch nötig. Dazu hörte man eine Stunde lang Techno, und wenn man endlich drankam, war einem sowieso alles egal. Ich versuche beim Frisör immer, mir zu merken, wer alles schon dasaß, weil ich mich nicht zu fragen traue, wer der Letzte war.
Manchmal traue ich mich auch und rufe „Wer war ’n der Letzte?“, ohne eine Antwort zu bekommen. Mir ist das peinlich. Als Kind war meine klare Anweisung an die Frisöse immer, mir den Pony ein bisschen unordentlich zu schneiden und nicht so gerade, ich wollte vor allem keinen Sachsenschnitt. Darunter verstand ich: Ohren halb bedeckt, Pony aber sehr kurz, Nacken natürlich eher länger. Dazu eine rechteckige Brille mit Alugestell und Schnurrbartflaum, so wurde der Sachse in den Werken unserer zeitgenössischen Kunst dargestellt. Da ich ihnen den Sachsenschnitt besser erklären konnte als meinen unordentlichen Pony, bekam ich meist einen Sachsenschnitt verpasst.
Mein goldenes Haar vermischte sich am Boden mit den fettigen Flocken meiner Vorgänger, und niemand machte sich die Mühe, es auseinander zu sortieren. Es wurde einfach zusammengefegt, in einen großen Sack gestopft und zu weichen Matratzen für die da oben im Politbüro verarbeitet. An meiner Frisörphobie hat sich seit damals nichts geändert. Bis auf ein Detail: Der Blick in den Spiegel gleicht immer mehr einer Prüfung im religiösen Sinne. Ich setzte mich auf den Stuhl, natürlich reichte ich immer noch nicht bis zum Boden. Dann wurde ich hochgepumpt und betrachte traurig den Mann im Spiegel. Ich versuchte wenigstens irgendwie zu gucken. Das war nicht leicht. Nicht so albern grinsen, nicht so traurig stieren, nicht so arrogant schmunzeln und nicht so ernst sinnen. Jeder Gesichtsmuskel probierte etwas anderes aus.
Außerdem hatte das Handtuch eine rote Rille auf meiner Stirn hinterlassen. Jetzt bekam ich eine Krepphalskrause. Ich könnte mir das ganze Leben nur Krepphalskrausen anlegen lassen, es hat etwas Beruhigendes, die Haare werden nicht dahinter fallen, mein Hals wird in Sicherheit bleiben. Die Frisöse hörte sich an, was ich wollte, aber nur mit einem Ohr. Sie war taub wegen dem Techno.
Ich erläuterte ihr meine Vorstellungen im Rhythmus, immer zwischen dem Wummern. „Hier . . . So . . . nicht . . . oder . . .?“ „Also Fasson?“, schrie sie zurück. Ich spürte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Als sie zu schneiden anfing, kitzelte es auch schon in der Nase. Ich konnte natürlich nicht hinfassen, die Hände lagen ja artig gefaltet unter der Plane. Ich versuchte mich unauffällig durch Hinundherstülpen der Nasenflügel vom lästigen Juckreiz zu befreien. Rechts habe ich dadurch schon immer freihändig den Knorpel freilegen können, links dagegen nie. Ich wüsste gern, ob das allen so geht oder ich mich damit von der grauen Masse abhebe.
Als ich wieder in den Spiegel sah, erschrak ich. War sie sicher, dass sie Frisöse gelernt hatte? Ich stellte meine Augen auf unscharf und ergab mich meinem Schicksal. Es war für mich schon immer Ehrensache gewesen, es zu erreichen, dass die Frisöse meinem Kopf kein einziges Mal einen Stups geben musste, um ihm die richtige Neigung zu geben. Ich tat alles, um das zu verhindern, und beugte mich seitlich und nach vorn gleichzeitig, um ihr die Arbeit zu erleichtern. Eigentlich hätte ich dafür ein Trinkgeld bekommen müssen.
Als es für sie nichts mehr zu schneiden gab, hielt sie einen Spiegel hinter meinen Kopf. Ich habe noch nie Korrekturen verlangt, dafür war auch jetzt keine Zeit. Ich bezahlte und sagte „Heil Hitler“, was bei meiner Frisur niemanden verwunderte. Dann stürzte ich eilig nach draußen. Erst jetzt fielen mir die idiotischen Gesichtszüge der anderen Wartenden auf.
Sie hingen willenlos in ihren Sesseln und warteten auf ihre Nummer, die Musik hatte sie völlig weich gekocht. Ich zog mir schnell meine Mütze über. Gut, dass Winter war. War gar nicht? Egal, Mützen waren in. Schnell nach Hause, da sah man meistens etwas besser aus. Man hatte das in den Jahren durch eine ausgetüftelte Lichtregie erreicht. Und dann ab ins Bett. Vielleicht wachsen die Haare ja über Nacht wieder ein Stück. JOCHEN SCHMIDT
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