piwik no script img

Fenster zum Himmel

Im Gegensatz zu anderen Dörfern hat das fränkische Ulsenheim noch einen Metzger, einen EC-Automaten, eine Telefonzelle, einen Friseur und – ganz wichtig – Lebensmittel Adolf Schmidt

Der Deutsche Sommer, Teil III: Stellen Sie sich vor, es gibt eine Kampagne, und niemand nimmt sie wahr: Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) hat 10 Millionen Mark in das „Jahr des Tourismus 2001“ gesteckt. Gegen den Ruf der Servicehölle trommelt sie fürs „Erlebnisland Deutschland“. Wir haben uns hierzulande umgeschaut.

von BERND SIEGLER

Wenn die Dörfer so komisch anmutende Namen wie Krautostheim, Wüstphül oder Humprechtsau tragen und Schilder an allen Wegen auf die „Mittelfränkische Bocksbeutelstraße“ verweisen, dann liegt Ulsenheim nicht mehr weit. Knapp 400 Einwohner zählt das Dorf, das an den südlichen Ausläufern des Steigerwalds liegt. So mancher Urlauber verirrt sich hierher – und kommt wieder, denn Ulsenheim ist nicht irgendein Dorf.

Ulsenheim ist ein altes Dorf. Einst hatte sich ein fränkischer Siedlungsführer namens „Ulso“ mit seinen Leuten am Ursprung des kleinen Flüsschens Gollach niedergelassen. 1094 wird das Dorf zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Im Mittelalter hatte der Ort ein eigenes Hochgericht, das nach der Anzahl der Richter „Sechzehner-Gericht“ genannt wurde. „Soll unnd muß ihnn hänncken an denn negsten Baum“, hieß die erbarmungslose Devise, wenn jemand bei einem Diebstahl ertappt worden war.

Nur mehr vereinzelte Fachwerkscheunen und alte Steingemäuer erinnern an vergangene Zeiten. Noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wurde das Dorf so gut wie ausgelöscht. Drei SS-Männer hatten sich Anfang April 1945 in ihren Panzern in der Ortsmitte verschanzt und glaubten, ausgerechnet im kleinen Ulsenheim den Endsieg erringen zu müssen. Die Alliierten beschossen das Dorf tagelang, bis die Nazis ihre Stellung aufgaben. 80 Prozent der Gebäude einschließlich der Kirche lagen danach in Schutt und Asche.

Ulsenheim ist kein Dorf, wie es die Städter lieben. Keine herausgeputzte Idylle mit geweißten Höfen, auf deren Fensterbänken die Geranien üppig wuchern, mit Dorfweiher und munterem Bächlein. Das alles findet man in benachbarten Markt Nordheim. Ulsenheim dagegen ist landwirtschaftlich geprägt. Wo andernorts die Höfe schließen, haben die Ulsenheimer Bauern mit Schweinezucht und -mast, Milchwirtschaft und Zuckerrübenanbau ihr Auskommen. Gut ausgebildete, oft studierte Landwirte im Alter zwischen 30 und 40 Jahren haben die elterlichen Höfe übernommen und versuchen nun, über Gemeinschaftsprojekte die Rentabilität zu sichern. Maschinen- und Stallgemeinschaften entstanden, der Wald wird gemeinschaftlich bewirtschaftet, und das Projekt einer Biogasanlage für das Dorf ist in Planung.

„Die Zusammmenarbeit untereinander ist eine Stärke, die gerade in Ulsenheim ausgeprägt ist“, meint Pfarrer Thomas Prusseit. Der 38-Jährige wurde vor zehn Jahren nach Ulsenheim geschickt. „Wo liegt das denn?“, ging es ihm anfangs nicht so ganz wertfrei durch den Kopf. Doch die vielen Jungbauern in seinem Alter und natürlich seine Stellung als Pfarrer machten es ihm leicht, im Dorf Fuß zu fassen. Prusseit ist überzeugt, dass das Gemeinschaftsgefühl vom Wiederaufbau nach dem Krieg herrührt. „So ein intaktes Dorfleben wie hier gibt es nicht oft.“

Ähnlich innovativ, wie die Bauern ihre Arbeit zu organisieren versuchen, betreibt Prusseit in Ulsenheim eine Revolutionierung des Gottesdienstes. Sie nennen sich nun „windows to heaven“ oder „neuer Wein Gottesdienste“, arbeiten mit Theaterstücken, moderner Musik, und die Betroffenen schreiben ihre Fürbitten selbst. Als Prusseit beim diesjährigen Kirchentag sein Projekt vorstellte, waren 1.600 Besucher begeistert. Seitdem bekommt der Ulsenheimer Pfarrer täglich Post von Interessierten und die St.-Jakobs-Kirche Zulauf von Auswärtigen.

„Man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen“, hat sich Prusseit den Vers 22 des Markus-Evangeliums, Kapitel 2, zu Eigen gemacht. Der neue Frankenwein in Ulsenheim wird mit der schonenden Methode der Ganztraubenpressung hergestellt. Die Trauben werden nicht am Weinberg gemahlen oder gequetscht, sondern als ganze Frucht in die mit Luftdruck betriebene Presse gebracht. Rund die Hälfte des Ertrags der neun Hektar am „Ulsenheimer Huttenberg“ landet bei Wolfgang Bergmann in der Presse. „Je weniger mechanischer Belastung die Beeren unterliegen, desto weniger Trub- oder Gerbstoffe finden sich später im Wein“, lobt er seine Methode. Rund 80.000 Liter Wein sind der Jahreslohn der rund 20 Nebenerwerbswinzer in Ulsenheim – Weißweine der Rebsorten Müller-Thurgau, Silvaner, Bacchus und Scheurebe sowie vereinzelt die Rotweine Domina und Spätburgunder. „Dank der Keuperböden hat unser Wein eine kräftigere, erdigere Note als die Weine, die auf den Muschelkalkböden in der Mainschleife wachsen“, erklärt Bergmann stolz.

Zum Probieren des jungen Weins gibt es im Dorf eigens eine Heckenwirtschaft, und im Gegensatz zu vielen anderen Ortschaften hat Ulsenheim noch einen Metzger, eine Raiffeisenbank mit EC-Automat, eine Telefonzelle sowie einen Friseur zu bieten und – ganz wichtig – Lebensmittel Adolf Schmidt. Der 65-jährige Ladenbesitzer nimmt den Begriff „Lebensmittel“ wörtlich. In den eng bestückten Regalen türmt sich nicht nur Ess- und Trinkbares. Von Micky Maus bis Wollsocken, vom Hosenknopf bis zu Wurst und Schnaps: Adolf Schmidt verkauft alles. „Nur Brot nicht“, fügt er ehrlicherweise hinzu. Das bringt täglich das Bäckerauto ins Dorf. Und Poststelle ist Lebensmittel Schmidt seit 1. Juli auch nicht mehr. Acht Jahre hat er Pakete und Briefe entgegengenommen, jetzt hat man die Außenstelle Ulsenheim wegrationalisiert.

Ein richtiges Dorf hat seine Gastwirtschaft. Ulsenheim hat gleich drei, darunter den alteingesessenen Landgasthof Zum Schwarzen Adler. Für kulinarische Vielfalt sorgt dort der 27-jährige Bernd Meyer. Ein Blick in die Speiesekarte offenbart überraschende Gegensätze. Die deftige Schlachtschlüssel mit Kesselfleisch, Brat-, Blut- und Leberwürsten, Sauerkraut und Brot (jeden Donnerstag für 9 Mark) steht einträchtig neben Lachs in Gravedsoße oder Perlhuhn mit Pfifferlingen und Wildreismischung. Meyer kocht seit Jahren für den alternden Playboy Gunther Sachs, wenn der im Sommer im mondänen St. Tropez, St. Moritz oder Palm Springs weilt. „Internationale Küche in Ulsenheim ist kein Widerspruch“, betont der Koch und stellt jedes Quartal seine Speisekarte auf die jeweiligen Saisonerzeugnisse um.

Internationalität in Ulsenheim versprechen auch die Wegweiser am Ortsausgang. Neben dem typisch deutschen gelben Schild, das die Richtung ins nächstgrößere Städtchen Uffenheim vorgibt, stechen ein blauer und ein weißer Wegweiser ins Auge: „Harze 488 km“ und „Chézy-sur-Marne 601 km“. Das kleine mittelfränkische Dorf pflegt seit Jahrzehnten zwei offizielle Partnerschaften mit Belgien und Frankreich.

Fast jährlich finden Austauschbesuche statt, auf international besetzten Musikfesten spielen die drei Kapellen der Gemeinden Ulsenheim, Harze und Chézy auf. Initiiert hatte diese Völker- respektive Dörferverständigung der Belgier Joseph Bonmariage. Als einer von 32 belgischen Kriegsgefangenen war er im Juni 1940 zur Zwangsarbeit auf den Bauernhöfen in Ulsenheim eingeteilt worden. „Sie haben uns alle sehr gut behandelt“, erinnert er sich. Schnell waren die Belgier in den Dorfalltag integriert, es entstanden Freundschaften und so manche heimliche Liebesbeziehung. Nach Kriegsende packten die Belgier beim Wiederaufbau mit an. Die Amerikaner übertrugen dem ehemaligen Kriegsgefangenen Bonmariage den Polizeidienst, bevor er im Juni 1945 nach Belgien zurückkehrte. Es ist ein Verdienst der Ulsenheimer, dass der heute 81-jährige Bonmariage im Mai dieses Jahres von Bayerns Innenminister Günther Beckstein als „Europäer der ersten Stunde“ mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.

Hinter den Kulissen hatte vor allem der „Musikverein Zeitvertreib Ulsenheim“ die Fäden gezogen. Die 1922 gegründete Blaskapelle spielt eine zentrale Rolle im Dorf. 150 Stücke umfasst ihr Repertoire, rund zehn Prozent der Einwohner machen aktiv mit, quer durch alle Altersschichten. Kein Dorffest, keine Kirchweih ohne den Musikverein. Sie spielen bayrische Blasmusik, aber auch moderne Stücke und gehen viel auf Reisen – zuletzt marschierten sie sogar auf der Steubenparade in New York mit. Vereinsvorsitzender ist Alfred Lang. Der Vollerwerbslandwirt spielt die Posaune und organisiert die Auftritte der Kapelle im In- und Ausland. Er sieht im Musikverein auch den Grund, warum in Ulsenheim, ganz anders als in anderen Dörfern, die Jugend nicht in die Städte abwandert: „Der Verein hält das Dorf zusammen.“ Das kann die 24-jährige Bianca Hirt nur bestätigen. Die Trompeterin arbeitet als Arzthelferin in Würzburg. Aus Ulsenheim aber würde sie nie wegziehen. „Warum auch? Bei uns ist immer etwas los. Wer im Dorf etwas bewegen will, der ist im Musikverein, und wo der ist, ist immer Party.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen