: Auch der Letzte darf rein
Während der Kanadier Bertram Fraser schon glücklich sein muss, überhaupt ins Stadion einlaufen zu dürfen, liefern sich Gezehegne Abera und Simon Biwott ein noch nie da gewesenes Marathon-Duell
aus Edmonton FRANK KETTERER
Bertram Fraser muss ein ziemlich glücklicher Mensch gewesen sein am Freitagabend, als in seinem Heimatland die Weltmeisterschaften der Leichtathleten eröffnet wurden. Er durfte zwei Runden im großen Commonwealth-Stadium laufen, und er hat es genossen. Dann ist er hinausgerannt auf die Jasper Avenue, und die Beine fühlten sich gut an und locker, so wie es sein muss. Später, auf der 107. Avenue, haben dem 35-Jährigen dann aber doch die hohen Temperaturen zugesetzt und die Luftfeuchtigkeit, weshalb er seine Schritte verlangsamen musste, um zu Atem zu kommen.
Ans Aufgeben hat Fraser aber nicht gedacht, nie, sondern ist tapfer weitergelaufen, immer weiter: eine Runde durch den malerischen Hawrelak-Park, die Groat Road entlang, an der University vorbei, mitten durch China Town und schließlich wieder zurück ins Stadion, wo die Menschen schon gewartet und ihn unter Getöse begleitet haben auf den letzten seiner 42.195 Meter. In 2:45:10 Stunden ist Fraser schließlich 73. und Letzter des Marathons, dem Eröfnungswettkampf der WM geworden.
Nun ist das nicht unbedingt ein Ergebnis, das einen Leistungssportler in Verzückung versetzen müsste. Betram Fraser aber konnte sich auf jeden Fall darüber freuen und glücklich sein, sehr glücklich sogar. Denn eigentlich hätten sie den Mann aus Lennoxville gar nicht mehr einlassen dürfen ins Stadion, so jedenfalls hatte es das Protokoll für die bunte und wirklich hübsche Eröffnungsfeier vorgesehen, in die der Marathon erstmals integriert war: Wer länger als 2:40 Stunden unterwegs sein würde bei drückender Hitze, für den sollte das große Tor verriegelt bleiben, schon um die offiziellen Feierlichkeiten drinnen nicht länger durch Sport zu stören. Potenziellen Nachzüglern hatten sie auf dem Nebenplatz eigens einen zweiten Zielstrich aufgepinselt. Dann aber zeigte die Uhr just jene Zeit, und irgendwo da draußen vor der Tür waren immer noch acht Athleten, die sich abmühten und denen der Nebenplatz drohte, was für die Kanadier prinzipiell nicht schlimm gewesen wäre. Dass sich unter den acht Läufern aber auch zwei Landsleute befanden, erweichte denn doch die Herzen der Zeremonienmeister und der Kampfrichter, die schließlich aufs Protokoll pfiffen und kurzum auch die Nachhut einließen – und somit auch Bertram Fraser seinen persönlichen Triumph gönnten: „Ich wusste, dass da 50.000 Menschen im Stadion auf mich warteten, und ich wollte unbedingt zu ihnen“, verriet er später, warum er überhaupt durchgehalten hatte, als Letzter und bis zum bitteren Ende. Und zum Lohn für so viel Sportsgeist überschütteten ihn die 50.000 Menschen drinnen nun mit Jubel und Applaus. Das hatten sie eine gute halbe Stunde zuvor auch mit Gezehegne Abera aus Äthiopien und Simon Biwott aus Kenia getan, in feinem Gespür für das unvergleichliche Spektakel, das die beiden Afrikaner ihnen boten: Noch nie in der Geschichte des Marathons waren zwei Läufer bis so kurz vor dem Zielstrich Schulter an Schulter gelaufen, noch nie musste am Ende nur eine Sekunde über Sieg und Niederlage entscheiden – eine winzige Sekunde nach so langen 42,195 Kilometern. Herausgelaufen hatte sie Abera, der Äthiopier, in der letzten Kurve vor dem Ziel, nur ein paar Schritte setzte er da schneller als der Kenianer Biwott. Aber das genügte schon: Ein, zwei, vielleicht drei Meter Vorsprung taten sich dadurch auf für den Olympiasieger von Sydney. So sehr Biwott auf den verbleibenden Metern auch kämpfte, so sehr er die Zähne zusammenbiss, es sollte nicht zu mehr reichen als Platz zwei: 2:12:43 Stunden zeigte die Uhr am Ende für ihn, 2:12:42 für Abera.
Es war wirklich so, wie das Edmonton Journal am Tag danach mit großen Buchstaben auf Seite eins titelte: „Spectacular“.
Wer bei dem Marathon-Mann aus Kenia aber allzu viel Enttäuschung über die vermeintliche Niederlage auf den letzten Metern vermutete, irrte. „Ich wollte Gold gewinnen“, sagte Biwott zwar, „aber ich bin bereit, Silber zu akzeptieren.“ Später, am Abend, verriet er gar noch, dass er eigentlich eher als Hase, als Tempomacher also, vorgesehen war für seinen etwas stärker eingeschätzten Landsmann Josephat Kiprono. Auch deswegen war der 31-Jährige meist vorne im Feld gelaufen und hatte dort Kraft gelassen; erst als er sich, nach langer Zeit an der Spitze, einmal umdrehte und den bereits zuvor ausgestiegenen Kiprono nicht mehr hinter sich im Schlepptau erblickte, beschloss Biwott sein eigenes Rennen zu laufen – und zu gewinnen. Eine Rennentwicklung, die für den Kenianer prinzipiell nicht die schlechteste zu sein scheint, schon vor einem Jahr war er beim Stadtmarathon von Berlin ebenfalls als Hase engagiert worden und holte sich schließlich den Sieg.
Vielleicht wäre ihm das auch in Edmonton gelungen, wenn der Gegner nicht ausgerechnet Abera geheißen hätte. Der Olympiasieger, obwohl lediglich mit einer mittelmäßigen Saisonbestmarke von 2:17 Stunden angereist, war sich nämlich schon beim Einlauf ins Stadion sicher, „dass ich gewinnen werde, wegen meiner Spurtkraft“. Genau so kam es in der letzten Kurve, was den 23-Jährigen in seiner Heimat endgültig zum Nationalhelden machen wird. Zwar ist das Land durch die wunderbaren Taten Haile Gebrselassies durchaus an Erfolge seiner Läufer gewöhnt, Marathon aber ist für die Menschen in Äthiopien schlichtweg das Größte, die Königsdisziplin sozusagen. Seit Freitag ist Gezehegne Abera, Olympiasieger und Weltmeister im Marathon, ihr König.
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