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Ein Atemzug von Größe

Maurice Greene gewinnt bei der Leichtathletik-WM als humpeligster Champion aller Zeiten seinen dritten Titel über 100 Meter und wagt einen zarten Vergleich mit dem unvergleichlichen Carl Lewis

aus Edmonton FRANK KETTERER

Es war zehn Meter vor dem Ziel, und von der Tribüne aus konnte man nur erahnen, was unten auf Bahn vier vor sich ging: Der Sprinter Maurice Greene lag dort in Führung im großen WM-Finale über 100 Meter, deutlich, jedenfalls so, dass man ihn bereits als Sieger erahnen konnte. Dann aber geschah das Unvorhergesehene, kaum wahrnehmbar, aber doch so, dass es die Geschichte dieses Rennens verändern sollte: Greenes Schritte wurden seltsam unrund, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, und ganz offensichtlich wurde der schnellste Mann der Welt just in diesem Moment weniger schnell, ein kleines bisschen nur, aber doch so viel, dass Tim Montgomery, sein einzig wirklicher Konkurrent im Kampf um die Sprintkrone, näher kam, immer näher, am Ende so nahe, dass alle Welt den Eindruck gewann, der große Maurice Greene habe sich ins Ziel retten müssen, um neuerlich Weltmeister zu werden über 100 Meter.

Maurice Greene hatte sich ins Ziel gerettet, und er bemühte sich hinter dem weißen Strich noch nicht einmal, es zu verbergen: Vielmehr griff der 27-Jährige an seinen linken Oberschenkel, noch während er humpelnd austrudelte, um aller Welt zu zeigen, dass in der Tat etwas nicht stimmte mit ihm und seinem zuvor schon lädierten Knie und dass Kollege Montgomery ihm natürlich nur deshalb noch einmal auf die Pelle hatte rücken können. „Seht her: Sogar wenn ich halb verletzt antrete, kann keiner mich schlagen“, so lautete Greenes Botschaft an die Welt, die in all ihrer Großmauligkeit durchaus passt zu dem Mann aus Kansas City. Und dass später rund ums Commonwealth Stadium zu Edmonton heftig diskutiert wurde, ob Greene sich tatsächlich verletzt habe oder nicht doch alles eine seiner berüchtigten Shows sei, dürfte den nunmehr dreifachen 100-Meter-Weltmeister und Olympiasieger von Sydney kaum interessiert haben; dass er noch am Abend nach dem Rennen einen weiteren Start über die 200 Meter für ausgeschlossen erklärte, spricht ohnehin für Variante eins, ebenso wie die Tatsache, dass ihm die Ärzte vor noch nicht all zu langer Zeit geraten hatten, eine Pause einzulegen wegen der gereizten Patellasehne.

Nach dem Rennen aber spielte noch nicht einmal das eine große Rolle. Greene ist und bleibt Weltmeister, das ist es, was zählt; mit seiner Siegerzeit von 9,82 Sekunden hat er in Edmonton zudem bewiesen, dass er sich nach wie vor völlig zurecht für den schnellsten Mann der Welt hält und dass die anderen, allen voran Landsmann Tim Montgomery, Zweiter in 9,85 Sekunden, sich wohl noch etwas in Geduld werde üben müssen, bevor sie ihn beerben können, irgendwann und eines fernen Tages. Als ganz so selbstverständlich hatte das vor dem Rennen freilich keineswegs mehr gegolten, jedenfalls waren in diesem Jahr ungewöhnliche Zweifel an der Stärke des Olympiasiegers aufgekommen, schon weil Greene mit 9,90 Sekunden lediglich die drittschnellste Saisonbestzeit vorzuweisen hatte, Montgomery (9,84) und Ato Boldon (9,88) aus Trinidad/Tobago waren jeweils hurtiger unterwegs gewesen. Vor allem Montgomery hatte auffällig offen und wortgewaltig am Thron gerüttelt. „Ich weiß ganz sicher, dass ich Maurice schlage. Ich fühle einen neuen Weltrekord in mir“, hatte der 26-Jährige noch in den Tagen von Edmonton getönt; der alte steht bei 9,79 Sekunden und wird natürlich von Greene gehalten.

Gefühle können trügen, und manchmal kann diese Einsicht ganz schön weh tun, auch wenn sie mit Silber dekoriert wird. Tim Montgomery musste nachher jedenfalls eher kleinlaut zugeben, dass er den WM-Titel schon vor dem Rennen so gut wie verloren hatte, weil mit einem von insgesamt drei Fehlstarts belastet. Zum Weltrekord wurde nach dem Finale ohnehin nur noch ein Mann befragt. Maurice Greene genoss dies, man sah ihm das an, um eine Antwort zu diesem Thema ist er ohnehin nie verlegen. „Immer wenn ich antrete, besteht die Möglichkeit, dass es einen neuen Weltrekord gibt“, diktierte er also in Mikrofone und Notizblöcke, eine Zeit von 9,77 Sekunden traue er sich quasi jeder Zeit zu. „Alles andere wäre Spekulation.“

Ebenso wie Antworten auf die Frage, ob Greene mit seinem Sieg in Edmonton nun endgültig zum besten Sprinter aller Zeiten geworden ist. 38 Mal hat er ein 100-Meter-Rennen nunmehr unter zehn Sekunden beendet, drei Mal ist er Weltmeister geworden, einmal Olympiasieger, zudem hält er den Weltrekord. Und doch gibt es einen, den selbst Maurice Greene für noch größer hält als Maurice Greene, was wirklich eine Menge bedeutet, aber wohl berechtigt ist, immerhin hat der große Carl Lewis nach wie vor einen Olympiasieg über die Sprintstrecke mehr. Wenigstens bei den WM-Titeln konnte Greene in Edmonton nun gleichziehen, was er prinzipiell als nicht unangenehm empfindet: „Man nennt mich jetzt in einem Atemzug mit Carl. Das kann doch nur gut für mich sein“, findet Greene. Insgeheim denkt er wahrscheinlich schon darüber nach, wie er das ändern kann.

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