„Ich bin nirgendwo hingefahren“

Von der schlimmsten Postkarte der Welt zum Geschäftserfolg mit „langweiligen Postkarten“: Der Magnum-Fotograf Martin Parr im Gespräch über das Postkartensammeln und seine Liebe zu spröden Fotos aus einer Welt voll verlorener Utopien

„In Postkarten spiegeln sich unsere Bestrebungen wider – und deren Scheitern.“

Interview YVES ROSSET

taz: Herr Parr, kaufen und verschicken Sie selbst gerne Postkarten?

Martin Parr: Ich habe schon immer Interesse an Postkarten gehabt und sie gesammelt. Als Bilder fand ich sie immer inspirierend. Aber ich benutze sie nicht mehr oder weniger als die meisten anderen.

Wann haben sie angefangen, Postkarten zu sammeln?

Vor ungefähr zwanzig Jahren. Angefangen habe ich vor allem mit Postkarten aus der Zeit der Jahrhundertwende. Damals, als die Postkarte auf den Markt kam, war das ein riesiges Ding. Es gab kein Telefon, aber dafür drei oder vier Postlieferungen am Tag. Die Leute haben dann Postkarten geschickt, um sich noch am gleichen Tag zu verabreden. Sie waren einfach billiger als Briefe. Es wurden also sehr viel mehr Postkarten verschickt als heute, aber sie hatten eine andere Funktion. Allmählich bin ich dann auf modernere Postkarten gekommen. Vor zehn Jahren habe ich einen Wettbewerb in Bristol veranstaltet und dabei versucht, die schlimmste Postkarte der Welt zu finden. Das hat mein Interesse an diesem Thema bestärkt. Als vor drei Jahren eine Bekannte von mir anfing, beim Phaidon-Verlag zu arbeiten, haben wir uns entschieden, ein Buch mit Postkarten aus Großbritannien zu machen.

Sehen Sie dabei Ihre Arbeit mit Postkarten als eine Art Hommage an das Medium?

Nein. Ich sehe die Postkarte eher als Informations- und Bildquelle, die uns viel über unsere Gesellschaft sagt. Als etwas, das vergessen wurde und das daher einen wichtigen dokumentarischen Aspekt besitzt. Ich versuche herauszufinden, was uns die Postkarte über uns sagen kann, besonders im Hinblick auf den Zeitraum der Aufbaujahre nach dem Krieg. In Postkarten spiegelt sich viel von unseren Bestrebungen wider – und wie sie gescheitert sind. Wahrscheinlich wurden sie sogar von relativ langweiligen Menschen gemacht. Trotzdem zeigen die ausgewählten Motive uns die Visionen gesellschaftlicher oder staatlicher Utopien. Und wenn diese Postkarten jetzt fade und müde aussehen, dann, weil in der Tat etwas Ähnliches mit diesen Utopien passiert ist.

Damals, als ein Einkaufzentrum gebaut wurde, feierte man es als einen Erfolg, als etwas Gelungenes. Heute versucht man eher, solche Einkaufszentren zu vermeiden. Ähnliches gilt für die Autobahnen. Am Anfang wurden sie als eine Erfüllung empfunden. Heute müssen die Leute sie einfach benutzen. Man kann sie nicht vermeiden und es gibt beim Autobahnfahren kein Vergnügen mehr. Diese Veränderungen in den Attitüden stehen im Zentrum meiner Arbeit.

Haben Sie jemals daran gedacht, selbst an die abgebildeten Orten zu fahren, um sie heute erneut zu fotografieren?

Schon, aber wo hätte ich anfangen sollen? Es gibt so viele Orte. Wenn Sie so etwas machen wollen, dann müssten Sie es richtig machen, also überall hinfahren. Ich bin dann nirgendwo hingefahren.

Ursprünglich bezeichnet das Wort „boring“ eine Unannehmlichkeit. Sie scheinen die Bilder auf den Postkarten dennoch zu schätzen ...

Obwohl diese Bildwelten als „langweilig“ bezeichnet werden, finde ich sie überhaupt nicht so. Dass sie als „langweilig“ bezeichnet werden, ist ein Marketingkonzept. Wenn Sie mit „faszinierenden Postkarten“ auf den Markt gehen, wird niemand Ihr Buch kaufen. So einfach ist das.

Welche Beziehung sehen Sie zwischen Ihrer Arbeit als Fotograf und der Sammlertätigkeit?

Für mich gehört das alles zusammen. Ich nehme nicht nur Bilder auf, sondern rekontextualisiere zugleich andere Bilder, von denen ich weiß, dass sie zu interessant sind, um ignoriert und vergessen zu werden.

Ihnen geht es also darum, mit Ihren Büchern über Postkarten die Bilder zu retten?

Ja, absolut. Als wir mit den Bildern aus England zur Verlagsleitung gegangen sind, war diese interessanterweise von dem Projekt überhaupt nicht überzeugt. Sie ließ es uns dennoch versuchen. Dabei waren die Bücher schon ausverkauft, bevor sie überhaupt in die Buchhandlungen kamen! Auch hier in Deutschland existiert ein solches Interesse, ein Markt für solche Bilder. Ich bin also sehr zufrieden, es war ein erfolgreiches Projekt. Zugleich bin ich auch zufrieden, dass es hier mit Deutschland sein Ende findet.

Warum gerade Deutschland?

Weil man immer meint, es sei ein langweiliges Land. In dieser Sache liefert Deutschland den Höhepunkt überhaupt. Daneben hat es seit dem Ende des Krieges alle diese Widersprüche gegeben, es existiert diese enorme Geschichte von der DDR und dem Westen – zusammen lebend und dennoch so unterschiedlich. Jeder Aspekt war in diesem Sinne perfekt. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Schule von Bernd und Hilla Becher einen großen Einfluss auf die Fotografen innerhalb der Kunstwelt hat. Viele von diesen Postkarten sehen so aus, als ob sie von den Schülern der Bechers aufgenommen worden seien. Dass Superstars wie Thomas Struth oder Andreas Gursky die entsprechenden Fotografien hätten machen können und dass wir zugleich keinen einzigen Namen von den Fotografen der abgebildeten Postkarten kennen – das finde ich eine wunderbare Ironie.

Haben Fotografen Sie angerufen und gesagt, sie hätten die Bilder gemacht?

Nein. Dafür hat hier jemand recherchiert, um so weit wie möglich die Frage der Rechte zu regeln.

Wie haben Sie die Postkarten überhaupt gefunden?

Meistens über Listen von Postkartenverkäufern. Allerdings würde Ihnen niemand was zeigen, wenn Sie nach langweiligen Postkarten fragen. Also habe ich nach Themen gefragt: Autobahn, Flughafen, Städte ... , vor allem in der ehemaligen DDR, weil sie für mein Vorhaben ein sehr fruchtbares Gebiet war. Ich habe zirka 600 Postkarten gesammelt, davon sind jetzt nur 168 im Buch abgebildet. Es gab so viele gute Beispiele, dass man daraus leicht drei Bücher hätte machen können.

Empfinden Sie diese Bilder als spezifisch deutsch im Vergleich zu denen, die Sie anderswo gefunden haben?

Ja. Im Vergleich mit England gibt es hier sehr viel mehr Wohngebäude, die fotografiert wurden. Die Postkarten sehen für mich überhaupt sehr deutsch aus, very germanic. Im besten Sinne des Wortes.

In Ihrer letztjährigen Ausstellung im Berliner Postfuhramt zeigte das letzte Bild aus der Serie „Boring, Oregon, 2000“ ein Straßenschild mit den Wörtern „Dead End“. Sind Sie selbst eher pessimistisch oder optimistisch veranlagt?

Wissen Sie, wenn ich die Welt ernsthaft betrachte oder darüber nachdenke, kann ich es nicht vermeiden, pessimistisch zu sein, obwohl ich eher jemand bin, mit dem man schlecht fertig wird. Aber auf einer bestimmten Ebene versuche ich meine Arbeit attraktiv zu machen. Ich benutze grelle Farben, versuche Ironie und Humor einzusetzen. Sonst wäre es zu dunkel, zu sehr depressiv eben ...

Sie werden stark angegriffen und kritisiert, weil Sie in dieser bunten Art die Monotonie des Massenkonsums zeigen.

Ja, und daraus schließe ich, dass ich es wahrscheinlich richtig mache. Ich empfinde es als beruhigend, in dieser Weise angegriffen zu werden. Es ist auch nicht mein Ziel, von vornherein Kontroversen hervorzurufen. Die betrachte ich als einen Nebeneffekt meiner Arbeit, und am Ende weiß ich, dass dieser Nebeneffekt eher positiv als negativ ist. Zugleich fotografiere oder sammle ich Sachen, die so offensichtlich dastehen, dass ich mich frage, warum andere das nicht auch machen.

Gibt es Postkarten von Ihren eigenen Fotografien?

Ja, einige.

Freuen Sie sich darüber?

Aber warum nicht? Wissen Sie, ich bin sehr unmoralisch, was meine Arbeit betrifft – mein Motto ist: „anywhere and everything, if I can get it into the world“.