: Wer ist wir?
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
„Manfred Fuhrmann zeigt, was wir verloren haben, als wir die humanistische Bildung aufgaben.“
Ulrich Greiner in der „Zeit“ vom 2. August 2001
Ach! Ulrich Greiner! schnarrt Dr. Siebert. Das war doch mal ein fitter Literaturkritiker. Und jetzt ist er eine alte Betschwester geworden.
Aber dies, die Unterscheidung zwischen einst und jetzt, wollen wir hier unberücksichtigt lassen (und da gäbe es über Dr. Siebert auch einiges zu sagen). Uns soll dies wir beschäftigen, das die humanistische Bildung aufgab und dadurch außerordentliche Kulturverluste erlitt.
Offensichtlich handelt es sich nicht um dasselbe wir, das ich eben gebraucht habe. Mein wir, das sind Sie, die eben lesen, und ich, der schreibt. Wir haben die humanistische Bildung nicht abgeschafft; wir waren an den entsprechenden Entscheidungsprozessen in keiner Weise beteiligt – was meine Person angeht, so besitzt sie das sog. große Latinum (und ich kann den Gewinn nicht loben, den mir dieser Unterricht gebracht hat – geschadet hat er sicherlich auch nicht: wieder ein anderes Thema). Wir hier, Sie, die lesen, ich, der schreibt, das ist eine zufällige Versammlung, die sich auch gleich wieder auflöst.
Das wir hingegen, das die humanistische Bildung abschaffte und jetzt unter den Verlusten leidet, muss eine höchst substanzielle Veranstaltung sein: Wer anders sollte solche eingreifenden Entscheidungen fällen können? Wir sollen uns unter diesem wir wohl ungefähr dasselbe vorstellen wie: die Gesellschaft. Unsere Gesellschaft hat die humanistische Bildung abgeschafft und erlitt damit ungeheure Kulturverluste.
Warum kehrt sie dann nicht schleunigst zur humanistischen Bildung zurück? Tja. Weil das wir, das die humanistische Bildung abschaffte, anscheinend nicht dasselbe wir ist, das den Verlust beklagt. Das erste wir stellt die wirkliche Gesellschaft dar, die darauf verzichtet, ihren Nachwuchs vom frühestmöglichen Zeitpunkt an allgemeinverbindlich mit Latein und Griechisch zu traktieren. Mit dem Allgemeinverbindlichen ist dies wir eng verknüpft; dass Sie und/oder ihre Kinder, wenn Sie es wünschen, ohne weiteres ein Gymnasium mit Griechisch und Latein finden, bleibt für das wir ohne Belang. Wir ist das Ganze, das Allgemeine, für dessen Nachwuchs Latein und Griechisch im Augenblick de facto nicht verbindlich sind.
Das wir nun, das darüber unendlich viel an Kultur verloren hat, ist etwas anderes. Es wird durch die Klage über den Verlust erst ins Leben gerufen – so wünscht es Ulrich Greiner und wer immer dies wir beschwört. Dem faktischen wir, das die humanistische Bildung abschaffte, kommt der Verlust ja nicht zu Bewusstsein; diesem wir ist Latein und Griechisch schnurz. Anders das potenzielle wir, das die Klage um den Verlust hervorbringen soll. Könnte es auf das faktische wir direkt einwirken, würde wenigstens der Lateinunterricht stiekum wieder allgemeinverbindlich am Gymnasium eingeführt . . .
Das ist natürlich Unsinn. Kein substanzielles wir hat die humanistische Bildung abgeschafft (oder eingeführt). Veränderungen des Curriculums versteht man – wie alle kulturellen Veränderungen – am besten als anonyme Prozesse. Sie lassen sich durch Erzählung an Akteuren festmachen, und die Erzählung lässt sich hinterher einem Publikum vortragen, aber dabei spielt an keiner Stelle ein substanzielles wir eine Rolle.
Kein wir plündert die fossilen Brennstoffe oder die Dritte Welt, unterwirft die einheimischen Jungs der Wehrpflicht, isst zu viel Schweinefleisch, subventioniert mit hohen Summen die Staatstheater – was immer Sie wollen. Folglich kann der Kritiker gegen dies faktische wir auch kein potenziell einsichtiges wir ins Leben rufen, das zur Umkehr bereit wäre.
Mir scheint, dass kein Literaturkritiker oder Leitartikler oder Leserbriefschreiber, der dies wir bemüht, sich über diese Lage der Dinge täuscht. Ob es um den Regenwald oder die humanistische Bildung oder die allgemeine Wehrpflicht geht: beschwört der Text dies wir, ist immer klar, dass Kritik und Klage und praktische Vorschläge keine Folgen zeitigen.
Das solche Texte diesem wir einerseits höchste, geradezu absolutistische Entscheidungskompetenz zuschreiben, andererseits aber von der Inexistenz oder doch dem Unwillen dieses wir, sich zu bessern, durchdrungen sind, dies Paradox verleiht Kritik und Klage erst die richtige Würze.
Das wir, wie Literaturkritiker und Leitartikler und Leserbriefschreiber es beschwören, bleibt imaginär – niemals geht ein Ruck oder Aufschrei oder was immer durch die Gesellschaft, so dass sie ihre Energien versammelt und dem für erstrebenswert erkannten Zweck zuwendet.
Denn gut unterschiedene und weit voneinander entfernte gesellschaftliche Apparate erteilen ja den Schulunterricht, betreiben das Staatstheater, trainieren die Jungs und Mädels beim Heer. Ein übergreifender gesellschaftlicher Wille darüber oder dahinter fände gar keinen Raum, sich zu bilden; kein Appell von irgendwoher kann ihn ins Leben rufen.
Dass der Staat dies wir wäre und von Literaturkritikern und Leitartiklern und Leserbriefschreibern auf den richtigen Weg geschickt werden könnte, diesen familialistischen Glauben (der Staat ist Vater/Mutter, allmächtig) findet man zwar hier und da (vor allem in den Leserbriefen), aber auch dann sind Kritik und Klage durchaus an der Untätigkeit dieses wir interessiert; Sie werden sehen: Auch in puncto Stammzellenforschung lassen wir es letztlich an der notwendigen Einheitlichkeit und Entschlossenheit fehlen.
Selbstverständlich finden sich Texte, in denen wir beklagen, dass es das wir früher einmal gegeben hat, dass aber die moderne Welt dies wir, den übergreifenden Willen, zerstörte. Mir scheint es sinnlos, von einer einst existierenden Einheit auszugehen, die zerfiel, je näher wir der Gegenwart kommen. Die Aktivitäten der Literaturkritiker und Leitartikler und Leserbriefschreiber scheinen mir am deutlichsten dem sozialen Modell der Gemeinde und ihres Predigers zu entsprechen.
Das wir des Predigers enthält dabei Herablassung. Er steht in Wirklichkeit ja über der Gemeinde oder wenigstens vor ihr. Er weiß, was sie wieder alles falsch gemacht hat, und redet ihr ins Gewissen, er mahnt zur Umkehr und Besinnung und weist den richtigen Weg, den die Gemeinde ohne ihn unmöglich findet. Doch bleibt der Mensch schwach; unter der Woche fährt die Gemeinde fort mit ihren Irrtümern; so dass nächsten Sonntag der Prediger wieder was zu predigen hat.
Ich will sagen: Mit Gesellschaftskritik oder auch politischer Rede, die auf politische Willensbildung zielt, hat die Rhetorik dieses wir gar nichts zu tun. Da müssen wir uns was Neues ausdenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen