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Die Suche nach der dritten Säule

Die Grenzen zwischen Klassik und Pop sind fließend geworden, die überzeugendsten Annäherungen finden derzeit auf elektroakustischem Gebiet statt. Doch die Aufhebung der Trennung zwischen den Sphären ist keineswegs wünschenswert, denn Avantgarde ist nur um den Preis der Autarkie zu haben

Majorfirmen sehen die Schnittstelle zwischen Klassik und Pop als Marktsegment

von BJÖRN GOTTSTEIN

Es wird in den frühen Neunzigerjahren gewesen sein, als ein paar Angehörige der Rockfraktion erstmals und völlig unvermittelt zum Konzert erschienen. Auf dem Programm standen Tonbandstücke des elektronischen Studios der Kölner Musikhochschule; die Komponisten trugen illustre Namen wie Herbert Eimert, Hans-Ulrich Humpert oder Michael Obst.

Die Rockfraktion kam nicht, um zu pöbeln. Aber sie schien mit den tradierten Konzertgepflogenheiten auch nicht recht vertraut: Füße wurden der Bequemlichkeit und der Pose halber hochgelegt, und man tuschelte während der Stücke. Die E-Musiker waren schockiert: Die sorgfältig verteidigte Nische, der nach außen verriegelte Elfenbeinturm war offensichtlich in Gefahr.

Heute scheint dieses Ereignis kaum der Rede wert. Das Interesse an Neuer Musik gehört auch für Pop-Sozialisierte längst zum guten Ton. Es gibt kaum mehr einen ambitionierten Popkünstler, der nicht gelegentlich von der Geschichte verbriefte Namen wie Iannis Xenakis, Karlheinz Stockhausen oder John Cage fallen lässt. Bruce Gilbert, Mitglied von der Punk-Wave-Band „Wire“, veröffentlicht auf Mute Tonträger, deren dichtes, schnarrendes Sägen für eine Dreiviertelstunde jede Schallwelle im Umkreis einiger Kilometer tilgen dürfte. Und wie selbstverständlich stapeln sich die unbehaglichen und sperrigen Tracks von Pan Sonic, Autechre und Oval im Dancefloor-Fach großer, und kaum mit Bildungsauftrag operierenden Elektrofachhändler. Aber, meldet sich der kritische Geist zu Wort: Ist dieses Phänomen wirklich neu? Und warum entwickelt die Popmusik überhaupt ein Faible für die sperrige Neue Musik? Färbt das ernste denn hörbar aufs populäre Fach ab? Welch notwendig falsches Bewusstsein stand dieser Liaison Pate? Und wie reagiert der klassische Kulturbetrieb auf die jugendbewegte Zuwendung, die er erfährt?

Einen „unerlässlichen Akt der Sophistication“ nennt Robert Young die Annäherung von U an E. Young ist Chefredakteur der britischen Musikzeitschrift Wire. Nicht anders als bei Duke Ellington oder Count Basie gehe es heute darum, „eine Musik zu legitimieren, die damals von einem weißen Publikum und weißen Kritikern zunächst als ‚primitiv‘ gebrandmarkt wurde“.

Youngs Antworten auf die Frage nach neuen Formen des Crossovers geraten schroff und ein wenig sarkastisch. Das Magazin Wire bedient seit nunmehr einem Jahrzehnt ein randständiges Publikum, dass sich für John Cale genauso interessiert wie für die neue Ligeti-Einspielung oder ein Evan-Parker-Reissue. Angesichts dieses würdigen Alters möchte man den Eindruck, man manövriere im Fahrwasser eines Trends, unbedingt vermeiden.

Aber das kuriose Repertoire kommt eben auch nicht so glamourös daher wie der Wire seine Leser gerne glauben macht. Die Auswahl der vorgestellten Künstler gerät stets ein wenig geschmäcklerisch. Mit proseminarischem Fleiß wird in jedem Heft meist mehrmals darauf hingewiesen, dass Schönberg die Tonalität aufhob und dass John Cage den europäischen Werkbegriff in Frage suspendierte. Darüber hinaus leidet Wire unter der Bürde, den verschiedenen Gattungen jeweils die gleiche optimistische Verve entgegenzubringen: die Sprache, mit der über die unterschiedlichsten Stile gesprochen wird, ist absolut monochrom und deshalb oft kläglich undifferenziert.

Der Blick auf den Anzeigenteil des Wire verrät überdies, dass die Schnittstelle zwischen avancierter Popmusik und entbürgerlichter Klassik mittlerweile auch von Majorlabels als Marktsegment erkannt und bedient wird.

Aus Sicht der Hörer ist das Phänomen noch am leichtesten zu packen. Pophörern bietet der neue Crossover die Möglichkeit in Würde zu altern, ohne antibürgerliche Ideale – und „Kunst“ als Schimpfwort – aufzugeben. Klassikhörern hingegen eröffnet sich im Gegenzug die Chance, aus dem zuweilen monotonen Konzertbetrieb freizubrechen, ohne einen in harter Arbeit erworbenen, ebenfalls idealistischen Kunstanspruch zu verraten.

Das gilt freilich nicht für die Schwemme, mit der Klassikpopulisten versuchen, die Kampfzone auszuweiten. Nicht für viel versprechende Veröffentlichungen wie „Bach meets the Beatles“ aus dem Hause Universal oder „Mozart für Technomüde“ aus dem Hause EMI. Das ist schlicht die Methode, mit der Marketingstrategen seit jeher ihre Anschläge verüben. Nennens- und bedenkenswert sind jüngste Crossoverversuche dort, wo Künstler jenseits marktstrategischen Kalküls operieren und – wichtiger noch: wo eine neue, autarke Musik eigener Qualität entsteht.

Eines der Gründungsmanifeste dieser Entwicklung sind die Steve-Reich-Remixe unter anderem von Coldcut, Howie B und DJ Spooky, die Anfang 1999 erschienen. Natürlich hatte es schon immer Berührungspunkte dieser Art gegeben, führte jeder mit Weitsicht sortierte Indie-Plattenladen eine rührendes Klassikfach mit Musik von, sagen wir: Edgar Varèse, John Cage oder Terry Riley. Und es hatte auch immer und vor allem im Popkontext Musiker gegeben, die genrefremde Stilelemente jenseits peinlicher Anbiederung einzusetzen wussten: Musiker aus dem Umfeld der Kölner Brüsseler-Platz-10a-Musik etwa, die – ähnlich wie Wire – die E/U-Schnittstelle Jahre vor dem Hype bedient haben, und aus dem etwa das Elektronikprojekt Mouse on Mars hervorgegangen ist.

Und dennoch wurden die Steve-Reich-Remixe zum bewusstseinsbildenden Kairos eines neuen musikalischen Diskurses. Zum einen gewährten die Protagonisten einen Grad öffentlicher Wahrnehmung, die Nischen fremd ist. Zum anderen erschien der Tonträger auf einem Klassiklabel, beim Neue-Musik-Verlag Nonesuch. Damit konnte das Phänomen auch seitens der ernsten Gilde als amtlich gelten. Das Reich-Repertoire schien dabei keineswegs außergewöhnlich originell, sofern der Minimalismus seit langem als Vorbild für das Stilmittel des Loops galt. Dass die Remixe selbst meist in einfallsloser Ehrfurcht ersticken, konnte das Gewicht der Veröffentlichung nicht schmälern.

Ähnliche Projekte, wie das 1998 lancierte „Ambientrocker Biosphere und Deathprod remixen norwegischen Komponisten Arne Nordheim“, gerieten vielleicht überzeugender. Sie fanden aber nicht die Resonanz, die sie als historische Marke hätte ausweisen können. Als das Label Philips im vergangenen Jahr Pierre Henry von statthaften DJs remixen ließ, hatte sich das Genre endgültig durchgesetzt. Dass Henry die Remixe nicht gefielen, sei nur nebenbei bemerkt.

Das Format „Popkünstler remixen E-Musik“ ist das vielleicht plakativste und medienträchtigste Forum einer neuen „mittleren Musik“. Überzeugendere musikalische Ergebnisse treten da zutage, wo Künstler den Gestus des jeweils fremden Genres aus eigenem Antrieb aufgreifen. Tonträger von Markus Popp, aka Oval, oder Markus Schmickler unterscheiden sich in Statur nicht von avancierten Stücken jüngerer, vermeintlich ernster Elektronica. Umgekehrt scheuen die meisten Komponisten elektronischer Musik heute etwa vor dem immanenten Groove maschineller Samples längst nicht mehr bedingungslos zurück.

Es ist kein Zufall, dass die erste wirklich nennenswerte Annäherung zwischen Klassik und Pop, die die zeitgenössische Musik derzeit erlebt, auf elektroakustischem Gebiet stattfindet. Denn hier treffen die beide Gattungen auf identische Produktionsbedingungen, sind Komponisten nicht mehr an Partituren sondern allenfalls an Konzepte gebunden und bedienen Popmusiker nicht länger die fragwürdigen Medienkonstrukte glamouröser Rockismen.

Heute gehört das Interesse an Neuer Musik zum guten Ton, DJs remixen E-Musik

Die Geschichte der Verschränkung divergenter musikalischer Sphären ist Teil der Geschichte der elektronischen Musik. Der Krautrock entfachte sich nicht zuletzt an den elektronischen Werken Karlheinz Stockhausens; Techno hat sich stets auf die Tonbandschleifen der Musique concrète etwa Pierre Henrys oder Luc Ferraris als Vorbilder berufen können. Noch heute empfängt Stockhausen Interviewpartner mit einem Stoß Popmusikzeitschriften unterm Arm – von Orkus bis zum Rolling Stone – , um seine musikalische Wirkungsbreite als Komponist unter Beweis zu stellen. Er tut dies freilich nicht, ohne monochrome elektronische Popmusik herablassend abzuurteilen.

Seit den Gründertagen träumt die elektronische Musik von einer Terzia prattica, von einer dritten Säule der musikalischen Praxis, die die vokale Mehrstimmigkeit des Mittelalters und die autonome Instrumentalmusik der Neuzeit nicht ablöst, aber doch ergänzt. Bislang war man mit diesem Anliegen gescheitert. Tonbänder und Liveelektronik mussten sich noch in den vergangenen Jahrzehnten mit einer Dienerrolle zufrieden geben. Dass ein erkennbar neuer elektronischer Gestus jetzt gleichzeitig unter verschiedenen ästhetischen Voraussetzungen entsteht, spricht für seine Tragfähigkeit.

Noch wird die stilistische Angleichung von elektronischer E- und U-Musik primär von Popkünstlern vollzogen, was in erster Linie wohl auf institutionelle Voraussetzungen zurückzuführen ist. Die zeitgenössische Musik musste sich stets abgrenzen, um überhaupt zu existieren. Es gab, anders als in der Popmusik, nie funktionierende Marktmechanismen mit subkulturellen Senken, sondern allenfalls eine sorgfältig etablierte Subventionskultur, die zu gefährden man sich nicht leisten kann. Kommerzieller Erfolg stellt sich eben meist erst dort ein, wo das ästhetische Dogma der Avantgarde verletzt wird. Und die Anbindung an die Popkultur seitens der Klassik geht regelmäßig mit unerträglichen Populismen und einem widerwärtigen Schönheitsideal einher.

Die Nische, die neue Musik als Kunst besetzt, ist nicht ohne weiteres preiszugeben. Bestimmte ästhetische Erfahrungen, die Intensität der Stille oder ein gewisser Grad an musikalischer Komplexität, lassen sich schlicht in keinem anderen Kontext verwirklichen.

Die junge Berliner Flötistin und Komponistin Kirsten Reese berichtet, dass sie auf Festivals gelegentlich gegängelt werde. „Ihr seid total weltfremd, weil in den Klubs inzwischen die super abstrakte Musik los ist“, lautet dann der Vorwurf, dem sie auch nicht anders beizukommen weiß, als mit einem: „Ja, wir wissen das, wir hören das, aber wir komponieren trotzdem neue Musik, eben weil es über eine eigene Qualität verfügt.“

Der Impuls, die Unterschiede zwischen den musikalischen Sphären dauerhaft aufzuheben, muss zunächst wohl von der institutionell und ästhetisch beweglicheren Popmusik kommen. Ob die sich die gegenwärtigen Produktionen als zukunftsträchtig behaupten können, ist einstweilen nicht abzusehen. Die musikalische Autarkie, über die sie zweifellos verfügt, ist wesentliche Voraussetzung ihres Gelingens. Sollte sie scheitern, wäre nun aber auch weder Hopfen noch Malz verloren, denn: The next revolution is just a stone’s throw away.

„Raus aus der Oper – rein in die Clubs?“ Panel am Donnerstag, 16. 8., 15 Uhr, Sektion 2. Und: Erlaubt oder verboten – Wege der Klassikvermarktung. Panel Samstag, 18. 8., 11.30 Uhr, Sektion 3

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