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Ein Zipfel der Ewigkeit

Vor dem Verstehen kommt das Staunen: Die Ausstellung „orientale 1“ in Weimar will den Blick auf das Fremde von dem alten Vorwurf befreien, wieder nur eurozentristische Aneignung zu betreiben

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Verstehen bedeutet sich Mühe geben. Vor dem leichtfertigen Griff nach dem Fremden, mit dem sich der Künstler heute als Mitspieler in einer globalisierten Kunstwelt ausweist, hat Rainer Ganahl das Erlernen der Sprachen gestellt. Es ist ein Langzeitprojekt – vor allem Koreanisch und Japanisch verschlingen Zeit. Die Hilflosigkeit des Lernenden und die Angst vor dem Unverständlichen aber setzen ihn der Grunderfahrung aus, die jeder Immigrant und Flüchtling macht.

Ein Video von Ganahls Sprachtraining läuft im Eingang der Ausstellung „orientale 1“ in der ACC-Galerie Weimar. Sie ist „Recherchen, Expeditionen, Handlungsreisen“ gewidmet, mit Beiträgen zeitgenössischer Künstler und von Händlern orientalischer Kunst. In dieser ungewöhnlichen Zusammenstellung verrät sich eine These des Kurators Peter Herbstreuth: „orientale“ will nicht nur die reisenden Künstler von heute, sondern auch die Kulturvermittler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Ethnologen, Islamisten und Importeure – von dem Vorwurf befreien, den Blick auf das Fremde nur als Geste der Unterwerfung und Aneignung mit zerstörerischen Folgen ausgeübt zu haben. „orientale“ erzählt vom Staunen, der Hingabe und Faszination, die dem Verstehen manchmal vorausgehen und manchmal an dessen Stelle genügen müssen. Denn eines wird schon an Ganahls Video klar: Um die ganze Welt zu verstehen, reicht eine Lebenszeit nicht aus.

Als Kaufmann war Hermann Burchardt schon unterwegs gewesen, aber erst eine Erbschaft 1891 ermöglichte ihm, sein weiteres Leben ganz dem Fotografieren im Libanon, Irak, Persien, Ägypten und Turkmenistan zu widmen. Nach seinem Tod 1909 erhielt das Museum für Völkerkunde in Berlin seine Glasnegative; bearbeitet und ausgestellt wurden sie erst in den 90er-Jahren. Wie kalligrafische Spuren der räumlichen und zeitlichen Entfernung wirken die Sprünge in Glasnegativen, die über Festungen von Abu Dhai in der Wüste oder dem Hafen von al-Adjer erscheinen. Wenig weiß man über Burchardts Motive – die Zeit aber, die er sich für seine Bilder nahm, schlug sich produktiv in seiner Einlassung auf den unspektakulären Alltag nieder.

Über solche Muße verfügte keiner der anderen Reisenden; und doch liegt in der Erfahrung, aus dem westlichen Zeit- und Verwertungstakt herausrutschen zu können, oft ihr erster Gewinn. Gunda Förster übersetzt das in eine gleißende Lichtinstallation, die unerwartet einen verwinkelten Korridor des alten Fachwerkhauses in grenzenlose Helligkeit taucht. Er birgt eine Erinnerung an die Wüste auf dem Weg nach Kairo – „Ich vergesse alles andere. Nichts mehr. Nur noch diese Endlosigkeit“ – und verwandelt sie zugleich in einen Schock. An die Stelle der Abwesenheit von allem tritt im Moment der Blendung höchste Künstlichkeit und fast ein Ausfall des Sehvermögens.

Sanfter lassen Enrique Fontanilles/Tadeus Pfeifer in ihrem Video „100 Years and 10 Minutes“ den Betrachter in einen anderen Zustand der Wahrnehmung hinübergleiten. Der Ganges bestimmt das Tempo einer Kamerafahrt entlang seines Ufers in Benares. Man ahnt im Dunst des Nebels die Pavillons und Paläste und erkennt nach und nach immer mehr Schemen, die über unendliche Treppen zum Bad ans Ufer herabsteigen. Selten transportieren zehn Minuten so genau das Gefühl, einen Zipfel der Ewigkeit zu berühren.

Anscheinend sind die neuen Medien besser als die alten geeignet, jene Kluft zu überwinden, die zwischen angewandter und autonomer Kunst eine Hierarchie der Kulturen etablierte. Kunsthistoriker versuchten zwar schon im 19. Jahrhundert, die islamischen Teppiche in ihrer Bedeutung neben die abendländische Malerei zu stellen, aber die anonymen Werke wurden immer wieder in die Ethnologie zurückgedrängt. Die ornamentalen Muster zweier Nomadenteppiche bilden das Vorzimmer zu Videobildern von Donatella Landi, die auf andere Art ebenfalls nichts als die Wahrnehmung von Farben, Mustern und visuellen Rhythmen übrig lässt. Indien hat ihrem Sehen eine Musikalität unterlegt, die von der Melodie der Straße getragen wird. Ihre Bilder haben kein Zentrum mehr, angstfrei überlässt sie sich der Dichte, treibt mit dem Strom, verlangt keine Übersicht.

Ein kleines Museum hat dagegen Friedrich Spuhler eingerichtet: mit Kalligrafie-Etüden, Kelimfragmenten, Instrumenten aus dem Tibet des 19. Jahrhunderts, Dreamstones aus China, Fliesen aus Afghanistan und magischen Quadraten, die vor dem bösen Blick schützen. Spuhler war lange Kustos am Museum für Islamische Kunst in Berlin, bevor er sich 1985 als Händler selbstständig machte. Mit ihm trägt die Ausstellung den Händlern als Kulturvermittlern Rechnung, die dem wissenschaftlichen und ästhetischen Diskurs oft vorausgingen. Zugleich wird deutlich, wie ihre Auswahl ein Bild vom Orient als Schatzkammer geprägt hat, das unverändert leuchtet und in dem Konflikte und Wertewandel der Gegenwart kaum sichtbar werden.

Aus diesem imaginierten Orient stammt auch das Abc der Parfümnamen, die Norbert W. Hinterberger auf die Tür der Toilletten geschrieben hat: „Arabie, Byzance, Cashmere“ usw. Die Desillusionierung folgt prompt, denn dahinter sind die Toiletten zu Hock-WCs umgebaut. Um diese Erfahrung kommt kein Reisender herum.

Bis 2. 9., ACC Galerie, Weimar

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