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Der Selbstermächtigungsfeldzug

74 Minuten warten auf den glasigen Blick. In Stephen Kays Remakefilm „Get Carter“ darf Stallone Schwäche zeigen

Man wartet genau 74 Minuten und 47 Sekunden auf den großen Augenblick. 74 Minuten lang hat sich Sylvester Stallone mit der für ihn typischen Stoik – die halbseitige Lähmung seines Gesichts ist diesem büstenhaften Ausdruck sehr zuträglich – durch die feindlichen Reihen getankt, eine Unmenge pointierter Aphorismen aus dem Harte-Jungs-Poesiealbum zum Besten gegeben, mit derselben Mimik fundierte Kinderpsychologie betrieben und diverse Gegenspieler zusammengeschlagen, ohne seinen Hemdkragen zu beschmutzen. Für diese Fertigkeit muss man ihn einfach mögen.

Stallones Gesicht ist wenig geheimnisvoll und trotzdem unergründlich. Er hat diesen einen wächsernen Ausdruck, unter dem sich wie schwache seismografische Impulse unzählige emotionale Andeutungen abzeichnen. Das unterscheidet ihn immer noch von Schwarzenegger, Van Damme oder Seagal. Würde er lächeln, sähe es wohl aus, als müsste er in Tränen ausbrechen. Tut er aber nicht: Sein Gesicht ist fast starr, was ihm eine gewisse Hilflosigkeit verleiht – selbst wenn er seinem Gegner den Kiefer bricht.

Stephen Kayes „Get Carter“ erzählt auf eher unspannende Art die Geschichte vom Bad Boy, der zurück in seine Heimatstadt (Seattle) kommt, um irgendwen (seinen Bruder) zu rächen. Bis zur 74. Filmminute hat der Zuschauer zumindest eine Erkenntnis erlangt: Dies ist ein Büßergesicht. Dann kommt der große Moment, dieses nachhaltige Beben – so was wäre Michael Caine in Mike Hodges Original von 1971 nie passiert. Stallones Gesichtsmuskeln zucken, das Gefühl will raus aus der Maske, der Blick wird glasig. Alles in diesem Gesicht beginnt zu arbeiten: Der Unterkiefer kaut, die Augen schließen sich in kurzen Intervallen, suchen die Schwärze des Vergessens; es ist genau diese mimische Limitiertheit, die seine Ohnmacht so menschlich erscheinen lässt. Aber die Tränen fließen trocken, Jack Carter ist noch nicht so weit.

Etwas später steht Stallone-Carter angeschlagen auf einer Start-up-Party Mickey Rourke gegenüber, den man nur noch in solchen miesen Rollen sehen möchte. Die Pose ist die des stolzen Unterlegenen, wie wir sie seit „Rocky I“ bei Stallone nicht mehr sehen durften. Stallone-Carter wankt, aber er fällt nicht. Seine neue Tugendhaftigkeit verleiht ihm eine moralische Überlegenheit; und Standfestigkeit. Es ist nicht mehr der alte, von Michael Caine gespielte Carter, den man nur mühsam unter den Schweinen ausfindig machen konnte, weil seine Mittel nur graduell besser waren als die des Mobs, den auszulöschen er sich in die Tristesse des englischen Newcastle aufgemacht hatte. Stallones Carter ist eine Lichtgestalt.

Caine-Carter war rast- und ortlos, die Rache war das Ziel. Von solch niederen Beweggründen weiß Stallone-Carter nichts; er ist ein moderner Odysseus, der sich auf dem langen Weg nach Hause befindet, um endlich anzukommen. Seine Familie hat er vor Jahren im Stich gelassen, und der Tod seines Bruders bringt ihn schließlich zurück an den Ausgangspunkt, damit die alten Rechnungen beglichen werden können.

Es ist eine Geschichte von Schuld und Sühne, in stahlblauen, stechenden Bildern erzählt. Das Graubraun Newcastles mit seinen symmetrisch bebauten Arbeitersiedlungen taugt nicht mehr für Stallones heroischen Selbstermächtigungsfeldzug. Die schmerzhafte Konfrontation mit seiner Schuld wird für diesen Helden zur letzten großen Prüfung, zur Absolution, zur Heimkehr zu sich selbst.

„Jack, you’re a bad brother!“, sagt Rourke an einer entscheidenden Stelle im Film zu Stallone; Stallones Gesicht fällt kurz in sich zusammen: „I know I am.“ Und das Schlimmste: Er findet sich in einer Welt wieder, die nicht mehr die Seine ist. Die Tochter seines Bruders nennt ihn einen Freak, und die Bösen sitzen längst nicht mehr in stinkigen Altmännerrunden beieinander und entscheiden über das Wohl dieser Welt, sondern sind Harvard-Absolventen von Anfang 30, die im 50. Stock ihres Multimillionen-Dollar-Imperiums sitzen und sich mit Hightech-Spielzeug ihre Zeit vertreiben. Das Geld wird hier nur noch in Koks oder Internet-Pornografie investiert. Nasdaq-Jüngling Jeremy Kinnear schreit Mickey Rourke an, dass er Harvard-Absolvent sei und mit so was nichts zu tun habe. Er irrt, die Welten haben sich angeglichen, alles dieselbe Scheiße.

Dieser Nihilismus ist leider die einzige wirkliche Parallele zu Hodges Original. Stallone hat nicht mehr den Stil von Michael Caine, dafür aber die Moral auf seiner Seite. So muss das heute wohl sein in Hollywood. Und darum dürfen Stallones Gesichtszüge am Ende seines „Get Carter“ auch zum ersten Mal ganz entspannt sein. ANDREAS BUSCHE

„Get Carter“. Regie: Stephen Kay. Mit Sylvester Stallone, Mickey Rourke u. a. USA 2001, 102 Min.

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