: Wie wollen Sie leben?
betr.: „Ein lebendiges Wunder“, taz.mag vom 11. 8. 01
Die Nichterfüllung sexueller Bedürfnisse im Leben ist sicher etwas, was sehr, sehr viele nicht behinderte Menschen mit behinderten gemeinsam haben. Ob Sex bzw. vorgespielte Zärtlichkeit gegen Geld hier einen annehmbaren Ausweg weisen kann, muss wohl jedmann und jedfrau selbst entscheiden (behinderte Frauen nehmen diesen Service interessanterweise bisher anscheinend nicht in Anspruch). Den Spagat, dies im Fall nicht behinderter Männer als unerwünschte gesellschaftliche Randerscheinung zu ächten und im Fall behinderter Männer als notwendige Pionierarbeit mit öffentlichen Mitteln zu fördern, bekomme ich jedenfalls in meinen Kopf nicht hinein.
Und trotz aller prinzipiellen Zustimmung frage ich mich auch: Wessen sexuelle Bedürfnisse werden dabei im Einzelfall wirklich erfüllt, diejenigen der behinderten Menschen oder diejenigen der Sexualbegleiterinnen (als vorgestellte Beispiele: Sex ohne Geschlechtsverkehr, Sex mit Männern, die auf Grund eines persönlichen Handicaps lediglich auf Frauenwünsche reagieren, aber nicht wirklich selbst agieren können; Sex ohne die Möglichkeit, weibliche Sexualität als „Gegenüber“ erleben zu können)? Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, dies als „sexualtherapeutische Pionierarbeit“ zu begreifen.
Wie wollen Sie leben? fragt die taz seit geraumer Zeit. Pflegeversicherung und Pflegedienste kümmern sich um die Tagespflege, für die sexuellen Bedürfnisse kommt eine bezahlte Liebesdienerin, das Essen kommt auf Rädern gegen Bezahlung ... Ich weiß, dies ist sehr vereinfachend dargestellt. Aber ein merkwürdiges Gefühl bleibt doch zurück bei mir, ob ich im Fall des Falles so leben wollte.
Ich wünsche allen behinderten Menschen, dass sie ihre ureigene Sexualität erfüllt und liebevoll, partnerschaftlich, gleichberechtigt und frei aller Konventionen erleben und ausleben können. Und dass sie, auch ohne bezahlten Sex, Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe in ihrem Alltag erfahren können. Allen übrigen Menschen wünsche ich dies übrigens auch.
MATTHIAS ROTH, Wolfhagen
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