„Wir müssen neu anfangen“

Wo ist der Soul hin? Die Spoken-Word-Poetin Ursula Rucker erzählt ganz ohne falschen Glamour Geschichten aus den Ghettos amerikanischer Großstädte. Ein Gespräch über die Misere des HipHop, die Macht der Musik und die Spätfolgen der Sklaverei

Ich möchte, dass die Leute wissen, wie das Leben unserer Community aussieht.

Interview CORNELIUS TITTEL

taz: Frau Rucker, auf Ihrem Debütalbum „Supa Sista“ zeichnen Sie ein Bild der amerikanischen Gesellschaft, das von Gewalt und Materialismus geprägt ist. Ihre desillusionierenden Geschichten aus den Großstadt-Ghettos der USA dürften die schlimmsten Ressentiments europäischer Intellektueller bestätigen . . .

Das sind keine Ressentiments. Leider. Es ist die Wahrheit. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Wir sind das reichste und mächtigste Land der Welt, und dennoch lebt ein Großteil der Bevölkerung in katastrophalen Verhältnissen. Wir werden von profitsüchtigen Dieben regiert. Spätestens seit der letzten Präsidenschaftswahl schäme ich mich, im Ausland sagen zu müssen, dass ich Amerikanerin bin. Dieses Land macht mir Angst – die Menschen, die ein Monster wie George W. Bush ins Weiße Haus wählen. Es ist ein kranker, kranker Witz.

Von Mahaliah Jackson über Marvin Gaye bis hin zu Public Enemy – schwarzen Künstlern lag schon immer daran, den Blick für soziale Realitäten zu schärfen. Schaltet man heute den Black Entertainment Channel, das schwarze MTV, ein, sieht man Luxusautos, Titten und Knarren – Eskapismus pur. Ist die Mainstream-HipHop-Kultur mitschuldig an der Misere der Black Communities?

Definitiv. Musik hat so viel Einfluss auf die Menschen. Sie tragen das, was sie hören und sehen, nach Hause, in ihren Alltag. Was sie sehen, sind Juwelen, Waffen und Frauen, die fast nichts anhaben und jederzeit verfügbar scheinen – dieses komplette Gangster-Lifestyle-Ding eben.

Kinder hören diese Musik und sehen sich die Videos an, und die Message ist klar: Sei hart, besorg dir eine Knarre, knall deine Feinde ab, nenn deine Freundin eine Nutte, werde wie ich. Das wirklich Zynische daran ist, dass die meisten Gangster-Rapper nie ein solches Leben geführt haben. Sie verkaufen nur ein Image, ohne sich zu überlegen, wie viel Macht und Einfluss sie haben. Ich denke, dass es durchaus einen Weg gibt, über den Alltag auf den Straßen zu sprechen, der eben nicht das glamourisiert, was wir alle gerne weit hinter uns lassen würden.

Mit ihren Gedichten kratzen Sie am „Fabulous Ghetto“-Mythos. Trotzdem benutzen Sie das gleiche explizite Vokabular wie die von ihnen kritisierten Rapper. Kostet es Sie keine Überwindung, bei Ihren Auftritten Worte wie „Pussy“ in den Mund zu nehmen?

Es macht mir immer noch Angst, denn du weißt nie, wie die Leute reagieren werden. Oft hören sie nur das eine Wort, ohne auf den Kontext zu achten – ohne zu hören, was du wirklich sagst. Oh mein Gott, raunen sie sich dann zu, sie hat gerade „pussy“ oder „fuck“ oder was auch immer gesagt. Wenn sie billige Filme gucken oder jiggy HipHop hören, sagen sie: Das sind doch nur Worte. Aber wenn ich sie benutze, haben sie ein Problem. Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Frau bin. Nur: Wieso sollte ich schöne und zarte Worte benutzen, wenn ich über Armut, Vergewaltigung und Drogenmissbrauch spreche? Ich erzähle, wie es wirklich ist, es ist alles real. Wenn jemand, der cracksüchtig ist, seinen Körper verkauft, um seine Drogen zu finanzieren, benutzte ich die Worte „pussy“ und „fuck.“ Es geht nicht um „makin’ love“, und auch das Wort „vagina“ trifft es nicht.

In einem Ihrer Stücke mit der Gruppe The Roots, „Return To Innocence Lost“, verarbeiten Sie den gewaltsamen Tod Ihres älteren, drogenabhängigen Bruders. Auch auf „Supa Sista“ sind Ihre Geschichten vom Abgrund der Gesellschaft derart intim erzählt, dass man den Eindruck gewinnt, Sie seien stets Augenzeuge gewesen.

Alle Geschichten, die ich erzähle, sind Menschen aus meinem Umfeld, aus meiner Nachbarschaft und meinem Freundeskreis passiert. Sie sind wahr, und in jeder von ihnen steckt ein Teil von mir. Nimm zum Beispiel „The Adventures In Wonderland“ (auf dem Roots-Album „Illadelph Halflife“ Anm. d. A.) – die Geschichte eines Mädchens, das anfängt, Drogen zu verkaufen, und in einen tödlichen Kreislauf gerät. Es ist die Geschichte einer Freundin meines Lebensgefährten Derrick. Ich konnte mich nur zu gut in ihre Situation hineinversetzen. Ich selbst habe es nie getan. Doch es gab Zeiten, in denen wir keinen Dollar hatten, ein kleines Baby und kaum etwas zu essen. Die Vorstellung, in Clubs zu gehen, die Leute zu versorgen und damit eine Menge Geld zu verdienen, klang damals nach einer guten Idee. Es hätte also meine Geschichte werden können. Ich kann sogar verstehen, wie man, um seinen eigenen Arsch zu retten, so etwas wie Crack verkaufen kann.

Ihr Debütalbum erscheint nun auf einem deutschen Dance-Label und erreicht somit mit Sicherheit mehr Menschen in Berlin und London als Leute in Ihrer Community – Leute, die Sie direkt adressieren. Frustriert Sie das?

Ich bin glücklich, überhaupt eine Platte machen zu können. Doch es zeigt, wie weit dieses Land heruntergekommen ist. Leute wie Saul Williams und ich werden in eine kleine Schublade mit der Aufschrift „Conscious Artists“ gesteckt. Es heißt, wir schreiben Texte für „Black Bohemians“, für eine kleine intellektuelle Minderheit. Alles Bullshit, wir versuchen das Gegenteil. Wir wollen alle erreichen, jeder soll es verstehen. Nur ist es so, dass gerade hier niemand zuhören will. Ab und zu kommt jemand wie Talib Kweli oder Mos Def mit real shit. Und sofort sagen die Leute, dass es ihnen zu viel sei, dass sie es nicht mehr hören können. Tausend andere Leute haben nichts zu sagen und werden genau dafür geliebt.

Irritiert Sie die Vorstellung nicht, dass Berliner Club-Kids beim Cocktail den Sound Ihrer Stimme genießen, ohne auch nur das Geringste von dem zu verstehen, wovon Sie reden?

Was kann ich tun? Ich kann nur hoffen, dass sie irgendwann beginnen, zuzuhören, oder ihnen jemand die Texte übersetzt. Ich denke einfach, dass die Menschen in der ganzen Welt wissen sollten, was bei uns passiert. Ich möchte, dass sie wissen, wie unser Leben aussieht. Ich möchte, dass sie wissen, in welcher sehr realen Misere die afroamerikanische Community steckt. Wenn ich über den Umweg Europa dann noch einige meiner Leute erreiche, ist das besser als nichts.

Das Intro zu Ihrem Titelsong „Supa Sista“ beginnt mit dumpfen Paukenschlägen, wie sie Ihre Vorfahren auf den Sklavenschiffen in die Neue Welt gehört haben müssen. Er endet mit einem programmatischen „But now I will rewrite history“. . .

Dieses Land macht mir Angst – die Menschen, die so ein Monster wie wählen!

. . . und genau das ist es, was niemand mehr hören will, obwohl die traumatische Geschichte der Afroamerikaner sehr viel mit ihrer heutigen Misere zu tun hat. In „Brown Boy“ zum Beispiel, einem anderen Track des Albums, beschäftige ich mich mit der Frage, wieso auffallend viele schwarze Männer ihre Frauen und Familien verlassen – eine Frage, die ohne einen Blick zurück nicht zu beantworten ist. Schwarze wurden immer bloß als [3]/5 eines Mannes gesehen – sie wurden misshandelt, systematisch von ihren Familien getrennt, ihre Frauen wurden vor ihren Augen vergewaltigt. Denken Sie, dass es ohne Folgen bleibt, wenn man so lange gedemütigt wird? Wenn einem systematisch eingeredet wird, dass man nichts wert ist, keine Talente hat? Denken Sie, dass es einfach ist für unsere Leute, darüber hinwegzukommen? Juden reden immer noch über den Holocaust, und das ist o. k. so. Aber wenn wir über all die Dinge reden, die uns passiert sind, ist es nicht o. k. – dann heißt es: Come on, wir wollen es nicht mehr hören, das alles ist lange her. Und das Schlimmste ist, dass es unsere eigenen Leute sind, die so denken.

Kann Musik in Zeiten ihrer globalen Vermarktung hier überhaupt noch gegensteuern? Das Shareholder-Value-Denken der Musikindustrie scheint in eine völlig entgegengesetzte Richtung zu zielen.

Es geht nicht nur um die Musik. Wir brauchen ein neues Movement. Und HipHop war ein Movement, weit über den musikalischen Aspekt hinaus. Nur wurde es ausgesaugt und verwässert bis zu einem Punkt, an dem es nichts mehr transportierte. Wir brauchen einen neuen Martin Luther King, ein neues Black Arts Movement, einen neuen Marvin Gaye. Leute, die aufstehen und keine Angst haben. Musik, die entsteht, weil Leute zusammenkommen und etwas zu sagen haben. Musik, die aus einem Movement heraus geboren wird. Wenn ich das Radio einschalte, frage ich mich, ob nur ich so denke. Wo bitte ist der Soul geblieben?

„The message in the music“, wie in den Siebzigern das Motto von Philly International lautete?

Genau. Dabei geht es noch nicht einmal nur um die Message. Ich brauche nicht immer eine Message, auch auf meinem Album nicht. Was ist mit einem schönen Lovesong? Einer, der nicht nur vom Ärscheversohlen handelt oder davon, wie gut eine x-beliebige Frau blasen kann. Ich will es einfach nicht mehr hören. Ich meine, lieben Schwarze sich nicht? Haben sie keine normalen Beziehungen, die etwas bedeuten? Können wir der Welt nicht zeigen, dass auch wir Liebende sind und nicht den ganzen Tag herumrennen und uns gegenseitig das Hirn rausficken? Entschuldige bitte, aber so werden wir porträtiert – so porträtieren wir uns selbst. Und die Welt schaut belustigt zu.

Wir müssen neu anfangen, anders und verantwortungsvoller leben. Dann wird auch eines Tages die Musik beginnen, ein besseres Leben zu reflektieren.