Lockmittel Leberwurst

Auf Erkundigungsbesuch bei den Tierfilmern Klaus und Annette Scheurich – Schülern quasi von Ernst Schuhmacher, Bernhard Grzimek und Heinz Sielmann: Beide gehen mit ihrem Team einem Handwerk nach, das weltweit immer spektakulärer inszeniert werden muss, um konkurrenzfähig zu bleiben

von HEIKE HAARHOFF

Jetzt nicht wackeln. Nicht an das Gewicht der Kamera denken, das die Arme zittrig werden lässt. Nicht an die fünfzig Meter zwischen dem Hier und dem Nichts, zwischen der Urwaldbaumkrone und dem freien Fall. Fünfzig Meter, die den Atem rauben und die Sinne schwinden lassen. Ignorieren.

Wie alles hier oben: den Wind, der die Plattform ins Wanken bringt. Die tropische Hitze, die wie ein schwerer Fieberanfall erschöpft. Die Schrammen an Gesicht und Händen, Zeugen waghalsiger Kletterpartien, dem Affen hinterher. Alles ignorieren. Der Affe wird springen. Bestimmt. Gleich. Sofort. Elegant und in hohem Bogen. Direkt vor die Linse. Warum sonst fixiert er diese schon seit Minuten?

Dann rüber zum nächsten Urwaldriesen. Ein Schwenk, den die Kamera mit Leichtigkeit vollziehen kann. So wird es sein, so muss es sein. Nur noch ein bisschen Geduld. Die Einstellung ist perfekt. Die Filmidee ist es auch: Dianameerkatzen, Weißnasen und roten Stummelaffen nahe zu kommen in ihrem Lebensraum – das ist bisher kaum einem Tierfilmer gelungen.

Klaus Scheurich verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: Das Kronendach des westafrikanischen Dschungels gilt als unerforscht. Aber wenn der Affe springt, was er bestimmt tut, gleich, sofort, elegant und in hohem Bogen, dann haben sich drei Monate Warterei, Strapazen und Höhenangst für den Tierfilmer gelohnt. Dann wird das, was bislang einsames Beobachterglück war, bald für ein Millionenpublikum sichtbar sein, weil auf Sechzehn-Millimeter-Film festgehalten und weltweit ausstrahlbar. Jetzt bloß nicht wackeln.

Der Affe springt nicht. Er bleibt stur hocken. Und guckt auch noch frech rüber. Fünf Minuten, zehn Minuten. Der Film ist gleich voll. Er wird sich zum anderen Ausschussmaterial sortieren lassen. Klaus Scheurich ahnt sein Pech. Einen reglosen Affen? Will niemand sehen. Also noch ein Film. Undnocheinennocheinennoch, der Regisseur verliert die Beherrschung: „Spring endlich, du Affe, weißt du eigentlich, was du mich kostest?“

Viel Geld, oftmals im Verlustbereich. Zwei-, höchstens dreihunderttausend Mark für eine dreiviertelstündige Tiersendung stellen öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten in Deutschland als Budget zur Verfügung, pauschal und alles inbegriffen. Bei den Privaten sind die Honorare noch dürftiger. Freiberufliche Tierfilmer wie Klaus Scheurich, 49, und seine Frau Annette Scheurich, 47, aus Heidelberg, vom Etat und den Sendern abhängig, müssen sehen, wie sie damit auskommen. Egal wie aufwendig die Recherche, wie kostspielig die Technik, wie kompliziert das Sujet, egal wie hoch das persönliche Risiko.

Nicht egal sind die Filmqualität und die davon abhängende internationale Konkurrenzfähigkeit. Annette und Klaus Scheurich geht in dieser Hinsicht jegliche Gleichgültigkeit ab. Seit fünfzehn Jahren sind die beiden im Geschäft; sie haben von Riesenottern am Fuße der peruanischen Anden über Löwen in der Steppe und Koalas im Eukalyptuswald Paradiese erforscht, die für normalsterbliche Tierfreunde zumeist unerreicht bleiben.

Sie sind mit dem „Crystal Eagle“, der Trophäe für den besten europäischen Tierfilm ausgezeichnet worden und mit ihrem Film über die Würgefeige nominiert beim Japan Wildlife Festival. Sie gehören mit Ernst Arendt und Hans Schweiger, Rudolf Lammers und Reinhard Radke zu den Großen unter Deutschlands Tierfilmern, und dennoch waren Annette und Klaus Scheurich häufig frustriert. „Der deutsche Tierfilm ist ordentlich. Aber er fällt international nicht weiter auf.“

Wie auch: Für Hochglanzproduktionen, mit denen sich beispielsweise die britische BBC oder National Geographic Ruhm und Ehre erworben haben, reichen die deutschen Budgets zumeist nicht. Nicht, dass die englischen Sender im Geld schwämmen. Sie sind nur pfiffiger: Internationale Vermarktung heißt das Mittel zum Erfolg. Was spricht dagegen, denselben Film über das Liebesleben der Warzenschweine einem englischen, japanischen und kanadischen Publikum zu zeigen? „Wenn die Briten einen Film in Auftrag geben, bedienen sie damit den Weltmarkt mit und können entsprechend großzügiger honorieren“, sagt Klaus Scheurich.

Seit Jahren schreibt die Sparte Tierfilm innerhalb der BBC schwarze Zahlen. In Deutschland dagegen habe sich bislang kaum jemand an internationale Koproduktionen herangewagt. Glücklich war, wer überhaupt einen Haussender gefunden hatte, an den er dann und wann einen Film loswerden konnte – alle Rechte inklusive. Bis zum letzten Herbst: Da hatten Annette und Klaus Scheurich die Nase voll von der „nationalen Enge“, wie sie sagen, und gründeten in Mainz mit finanzieller Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz die „Marco Polo Film Aktiengesellschaft“.

Die erste deutsche Filmproduktionsfirma will so genannte High-Definition-kompatible Naturfilme in internationaler Koproduktion mit unterschiedlichen Sendeanstalten auf den Markt bringen. „Die Idee ist simpel“, sagt Klaus Scheurich: „Wir machen unsere Filme wie bisher, aber zugleich kümmern wir uns um die internationale Vermarktung der Tierfilme von Kollegen.“

Ziel ist, bessere Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Rainer Bergomaz ist skeptisch. Warum, fragt der Tierfilmer aus München, der zu den Scheurichs nach Mainz gekommen ist, eine Zusammenarbeit ausloten? Warum sollten deutsche Sender Angebote der Marco Polo Film AG attraktiv finden, wenn sie doch Filme aus dem Ausland billiger einkaufen können? „Gemeinsam“, Annette Scheurich betont das Wort, als sei sie in ihrem früheren Leben Gewerkschaftsführerin gewesen, „gemeinsam sind wir stark.“

Filme könnten im Paket angeboten werden und dazu noch günstig, weil ja Geld aus den Koproduktionen dazu komme. Diesen Vorteil müsse jeder Sender einsehen. Vorausgesetzt – Annette Scheurich blickt Rainer Bergomaz streng an – die Marco Polo Film AG biete wirklich erstklassige Tiergeschichten. Das sitzt. Der Gast legt sein mitgebrachtes Demotape ein. Es geht um Steinmarder und ihre Vorlieben für Autopolster, Reifen und Kühlerhauben; Übernachtungsorte eben, die einem postmodernen Tier des 21. Jahrhunderts würdig sind. Ein verständnis-, ein liebevoller Film, einer, der erklärt, weshalb Steinmarder keine Plage von Natur aus sind, sondern geradezu gezwungen wurden, auf Kraftfahrzeuge auszuweichen, nachdem deren Besitzer ihre ursprünglichen Schlafplätze abgeholzt, versiegelt oder zubetoniert hatten.

Wer kann es da verübeln, dass die eine oder andere Bremsleitung ihrem nächtlichen Nagetrieb zum Opfer fällt? Es ist ein Film, der nichts beschönigt und dennoch ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Wer so filmt, der ist mit den Scheurichs auf einer Wellenlänge: „Ein guter Tierfilm ist einer, der den Menschen im Kopf bleibt.“ Dazu gehört eine „gute“ Geschichte, wobei gut emotional meint: Interessant ist nicht, wie die Feldmaus Körnchen frisst, sondern warum sie das macht. Und mit wem. Und wer dabei das Nachsehen hat.

Früher war das anders. Zu Zeiten, da es höchstens drei Fernsehprogramme gab und Mallorca noch exotisch war, zogen allein Bilder jagender Löwen Millionen von Fernsehzuschauern in ihren Bann. Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek, die das Genre des TV-Tierfilms begründeten, schafften Einschaltquoten, die es mit denen von Krimis aufnehmen konnten. Heute dagegen, da bald jeder Zipfel dieser Erde erforscht ist, ist der Markt schwieriger.

Unterwasseraufnahmen sind kein Hit mehr, die große Zeit der Ökothemen, die Zorn hervorriefen, ist vorbei, und was bleibt, ist ein Hang zu Superlativen: „Nie da gewesene“ Bilder sollen es sein, „einmalig“ und „sensationell“. Wie aber da ran kommen? „Wer heute international auf dem Markt bestehen will, kommt nicht daran vorbei, für extreme Nahaufnahmen auch mal im Zoo zu filmen“, bedauert Klaus Scheurich.

Er selbst hat diese Erfahrung gemacht: Für Unterwasseraufnahmen suchte er das Aquarium im Zoo von Melbourne auf, nachdem er zuvor 1997 monatelang an der Elfenbeinküste den Spuren des Zwergflusspferdes gefolgt war. Die weltweit ersten Filmaufnahmen des überaus scheuen Tiers in freier Wildbahn hatte er am Ende zwar in der Tasche, doch für die Unterwasseraufnahmen war der Fluss schlicht zu trübe. Stattdessen starb er beinahe an einer seltenen Tropenkrankheit. „Tierfilmer war schon tot“, titelte Bild damals, Scheurich spricht heute von einer „Hassliebe“ zum Zwergflusspferd: „Ich bin Tierfilmer, nicht Tiersucher!“

Doch die „Jagd“ nach den spektakulären Aufnahmen hat Grenzen: Einen dressierten Löwen auf eine zahme Antilope zu hetzen, kommt für die Scheurichs ebenso wenig in Frage wie Gnuherden für das eindrucksvollere Foto mit Hubschraubern zusammenzutreiben oder Adlern bei der Jagd die Beute lebendig mitzubringen.

Erlaubt sind lediglich „kleine Tricks“: Marder beispielsweise nagen umso filmreifer an Autokabeln, je üppiger diese mit Leberwurst bestrichen sind. Und was die Affen im westafrikanischen Dschungel angeht: Nach vielen Flüchen und vergeudeten Filmkassetten haben die Scheurichs freudig festgestellt, dass zum Ende der Trockenzeit, wenn es kaum noch Nahrung gibt, die Affen in Scharen auf die wenigen Bäume klettern, wo es noch Früchte gibt.

Es gilt also, die richtige Jahreszeit abzupassen, damit der Affe springt, bestimmt, gleich, sofort. Elegant und in hohem Bogen. Direkt vor die Linse.

HEIKE HAARHOFF, 31, Reporterin der taz, hat die beiden Tierfilmer im Regenwald an der Elfenbeinküste kennen gelernt – das ausführliche Gespräch mit ihnen fand in Mainz statt