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Die Abwasser-Meister

BINNENWELTEN – Die taz-Serie über den unsichtbaren Alltag. Teil 8 und Schluss: Siele, ein Paradies für Millionen Hamburger Ratten  ■ Von Gesine Kulcke

Einmal an der Kette gezogen, und weg ist es. Die weißen Kacheln strahlen, die Porzellanschüssel wird noch einmal gebürstet. Es duftet nach WC-Frische, als wäre nichts gewesen. Die Hände gewaschen, Klotür auf, Licht aus. Das Geschäft ist erledigt und schon vergessen.

Drei Meter unter der Eimsbütteler Methfesselstraße schaltet Lothar Hennig sein Grubenlicht an und steht mitten drin. Frühmorgens beginnt er seine Schicht mit der Inspektion der gerade sanierten Abwasserrohre in Eimsbüttel. Bis über die Oberschenkel reichen seine Gummistiefel, die Schutzhandschuhe bis über die Ellenbogen. Hennig kriecht in jedes Siel, das einen Durchmesser von mindestens 80 Zentimetern hat. Auch wenn es 30 Meter tief unter der Erde liegt wie in Blankenese. Oder unter der Holstenbrauerei, wo von der maroden Sieldecke Hefereste in seinen Nacken tropfen. Auch wenn sich die Abwässer tiefrot färben, und Hennig durch gespülte Schlachthof-Innereien rutschen muss.

Dieser Einsatz ist harmlos: Es riecht nicht nach Faulgasen, sondern fast besser als auf manch einer Toilette. Das trübe Wasser ist lediglich mit kleinen, braunen Stückchen und aufgeweichten Klopapierfäden durchsetzt. Weggespült von einem der zwei Millionen Hamburger, die pro Kopf 120 Liter Abwasser in das 5400 Kilometer lange Sielsystem der Stadt abführen.

Ruhig plätschert es unter der Methfesselstraße. Die Backsteinrohre sind alt und glitschig, aber seit ihrer Sanierung von allen Ablagerungen befreit und mit GFK ausgekleidet. Auf den frisch gemauerten kleinen Absätzen neben dem Schacht sind bisher nur wenige Kanalratten über Essensreste hergefallen. Hier und da ein bisschen Kot, mehr ist von ihnen nicht zu sehen: „Wir sind viel zu laut. Eine Ratte bekommen wir hier selten zu Gesicht“, erzählt Hennig. Seine dunkle Stimme hallt in den sich hunderte von Kilometer langziehenden Rohren nach. Damit warnt er jede Ratte, die auf eine neue Ladung vergammelter Nudeln, Kartoffeln oder Fleischreste aus der Kloschüssel lauert.

Eimsbüttel gehört zu den begehrtesten unterirdischen Stadtteilen der Allesfresser: Zwar werden immer mehr Siele saniert. Dennoch überwiegen alte, marode Mischwasserleitungen, die Schmutz- und Regenwasser nicht voneinander trennen. Nur am Hafen und in der Neustadt gibt es noch mehr Ratten, dort wo die Siele aussehen wie alte Grotten, drei, vier Meter breit. Diese schiefen, säurezerfressenen Backsteinhöhlen waren die ersten, die der Engländer William Lindley 1842 errichtete, als er mit dem Bau der damals einzigen deutschen Kanalisation unter der Erde begann. Ein Paradies für die Millionen wohlgenäherter Viecher. Und ein idealer Drehort, an dem Fernseh-Gauner ihre zerstückelten Leichen in die stinkende Kloake werfen können.

Oben auf der Straße stehen vier Männer am Kanaldeckel und bereiten den Abstieg von Thomas Müller vor. Er wird Hennig unter der Erde begleiten. 1000 Meter werden sie durch Siele waten, krabbeln und kriechen. Sie müssen Sonden verlegen, die den Kollegen oben verraten, wo sie ihre Bohrer ansetzen müssen, um kaputte Rohre zu reparieren. Dafür müssen die beiden die Siele vermessen und begutachten.

Der gelernte Ver- und Entsorger Müller legt einen Lifebelt an, setzt einen gelben Helm auf und schnallt den Selbstretter um – einen kleinen schwarzen Kasten, der im Notfall für eine halbe Stunde Sauerstoff liefert. Langsam lässt er sich an einer Winde von seinen Kollegen in den Schacht abseilen. Für seine Sicherheit sorgt eine durchsichtige Plastikkugel im Schacht. Sie führt zu einem auf der Straße stationierten Multiwarner. Der misst Sauerstoffgehalt, Methangas- und Schwefelwasserstoffwerte.

Sinkt der Sauerstoffgehalt unter 19 Prozent, weil irgendwo jemand unerwartet chemische Gase in das System leitet oder bei der Reinigung von Faulschlamm-Ablagerungen die Methanwerte in die Höhe schnellen, gibt es ein Signal und die Kanalarbeiter verlassen sofort das Siel. Für längere Aufenthalte unter der Erde gibt es extra Sauerstoffflaschen.

In den schmalen Rohren, in die die Kanalarbeiter nicht passen, übernimmt eine Kamera die Inspektion. Die wird per Computer auf Rollen durch die Rohre geleitet. Ihre Aufnahmen überträgt sie in das Fernauge, einen Kleinbus, in dem Sielarbeiter Dirk Meyer vor einer Computeranlage und vier Monitoren sitzt. Er sucht auf den Aufnahmen nach absackenden, renovierungsbedürftigen Sielen und entdeckt dabei immer wieder seltsame Dinge, die die Rohre verstopfen. „Die Leute spülen alles, was passt, in den Kanal“: Kleidung, Damenbinden, Rasierklingen und Essensreste. In Eppendorf finden sich öfters Spritzen und OP-Besteck im Siel, in St. Pauli Tausende von Kondomen. Gebisse, manchmal aber auch Geld oder sogar Gold schwimmen in der Kloake. Ein Kanalarbeiter fand einmal einen Einkaufswagen, ein anderer eine Schubkarre. Jemand behauptet, am Pumpwerk Hafenstraße sei einmal eine Babyleiche gefunden worden.

Heute gibt es nichts als Kot, und Meyer ist zufrieden. Zum Ende der Schicht schüttet ein Kammerjäger noch zwei Tüten Gift ins Siel, das die Ratten fressen sollen. Dann verbluten sie innerlich. „Sie empfinden dabei keinen Schmerz“, erklärt der Kammerjäger. Der schmerzfreie Tod soll vermeiden, dass die Ratten schreien und ihre Artgenossen vor dem Fraß warnen. „Aber besiegen werden wir sie nie. Wir können höchstens ihre Zahl konstant halten.“ Alle sechs bis acht Wochen bekommen sie Nachwuchs, 1000 Junge pro Pärchen im Jahr. Gefährlich sind die Ratten für die Sielarbeiter eigentlich nicht. Die einzige Bedrohung ist die Weilsche Krankheit, eine Infektionskrankheit, die im Urin der Tiere enthaltene Keime auslösen können. Wird sie nicht rechtzeitig behandelt, kann sie tödlich enden.

„Weitaus problematischer sind die Dinge, die wir nicht sehen können, wie chemische Gase, die plötzlich und unerwartet auftauchen“, sagt Stefan Matern, der seit zehn Jahren unter Tage beschäftigt ist. „Deshalb müssen immer genügend Männer oben stehen und im Notfall die Kanalarbeiter hochholen“.

Matern ist Abwasser-Meister. Lernen kann man seinen Beruf noch nicht lange. „Noch vor zwanzig Jahren wurde jeder einfach so eingestellt, da den Job keiner machen wollte. Und es ist auch noch gar nicht lange her, da haben hier unten nur Gefangene gearbeitet.“ Der Einsatz computergesteuerter Kameras und moderner Reini-gungsfahrzeuge haben den Beruf aber nicht nur sicherer, sondern auch anspruchsvoller gemacht.

Trotz der Faulgase, die beim Schaufeln in der Kloake entstehen, und trotz der Ratten: Weder Matern noch seine Kollegen Hennig und Meyer wünschen sich einen Bürojob, den sie mit schwarzem Anzug und sauberem Hemd erledigen könnten. „Hier unten haben wir unsere Ruhe, hier stört uns keiner“, sagt Meyer. Und ein krisensicherer Job sei es auch. Nicht nur, weil es noch mindestens 800 Kilomter marode Siele gibt, die saniert werden müssen. Sondern auch, weil der Mensch nicht aufhören wird, das Klo zu besuchen und aus seiner kleinen, weißgekachelten Oase alles, was ihn belastet, wegzuspülen und in der Unterwelt zu versenken.

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