: Kathedrale aus Blätterwerk
Annäherung an einen Berliner Park (5): Das Schöneberger Südgelände lehrt einen in seiner üppigen Pflanzenpracht das Fürchten und das Staunen. Von dort aus erobert sich die Natur die Stadt zurück
von PETRA WELZEL
Ihn sieht man zu allererst. Einen gigantischen Phallus. Wie er da so rostig aus den Bäumen und Sträuchern mit seiner runden Kuppe sticht. Ein fragiles Vermächtnis längst vergangener Industrie einerseits, mit seinem durchbrochenen Corpus. Andererseits ein standfestes Gemächt, unverwüstlich, das den Rost wie eine zweite Haut trägt, an der der Zahn der Zeit vergeblich nagt.
Das Wort „Glück“ hat jemand hineingekratzt. So wie sie sonst Herzen mit Initialen oder Namen in Baumrinden ritzen. Groß und deutlich. Ja, wirklich ein Glück, dass er stehen geblieben ist, der alte Wasserturm des ehemaligen Schöneberger Südgeländes der Reichsbahn.
Dampfloks hat er einst mit Wasser auf dem Tempelhofer Rangierbahnhof versorgt. Jetzt hat er seine Ruhe. Wie ein Respekt einflößender asiatischer Tempelwächter wacht er unverrückbar über den sich kilometerlang hinter ihm erstreckenden Biotop. Als wäre er Westportal und Glockenturm einer Kathedrale, hinter der sich lichtdurchwirkte Kirchenschiffe mit Kreuzbögen aus filigranen Ästen und Blätterwerk öffnen.
Letztes Jahr im Frühsommer stieß man dort auf seltsame Objekte. Auf einen Güterzug zu klein für echte Gleise und zu groß für Spielzeugeisenbahnen. Geladen hatte er alte Koffer und Kleidung von Reisenden, die man deportiert hatte. Einige hundert Meter weiter stand man plötzlich vor einem riesigen Holzstuhl, einem Schulstuhl, der jedes Klassenzimmer sprengen würde. In modrigen Steinbaracken führten mit Einbruch der Dämmerung Studenten der Schauspielschule kleine szenische Fragmente auf. Und das alles in einer üppigen, natürlichen Pracht: Ein wildes Blühen. Es war wie mit Alice durchs Wunderland streifen. Nicht von dieser Welt, schon gar nicht von dieser Stadt.
Zwei Monate später begann die Weltausstellung in Hannover. Das gerade für die Öffentlichkeit als „Natur-Park“ freigegebene Schöneberger Südgelände war zum externen Projekt der Expo erklärt worden: Jedes Wochenende kamen rund 1.200 Besucher. Sie schlängelten sich auf den engen Pfaden und Wegen. Auf den Gittern, die entlang der alten Schienen verlegt wurden.
Man darf sie nicht verlassen. Es ist auch nicht erlaubt, sich in die Büsche zu schlagen oder auf einer der bunten Blumenwiesen den Picknickkorb auszupacken. Hunde sind gar nicht erst zugelassen. Auch nicht an der Leine. Hier wird der Mensch domestiziert und nicht die Natur.
Das Fürchten kann man hier lernen, wenn man allein herumwandert und ewig keine Menschenseele sieht und hört. Aber auch das Staunen. Nahezu 400 verschiedene Pflanzen haben sich auf der ehemaligen Reichsbahntrasse zwischen Papestraße und Priesterweg nach dem Krieg angesiedelt. Sogar solche, die sonst nur noch in Urwäldern wachsen. Allein 95 verschiedene Bienenarten haben sich niedergelassen und beuteln sich ihren Beinpelz mit Blütenstaub voll.
Horst B., der 1946 beim Opelwerk auf der anderen Seite des Areals eingestellt wurde, erinnert sich noch an die nackten Gleise, über die er hüpfen musste, um zur Arbeit zu gelangen: „Und jetzt sieht man kaum noch was. Zuerst kamen die Birken, überall Birken, die weißen kleinen Stämme, die da herausragten, und nachher war alles grün, grün, grün. Und seltene Vögel hat man da manchmal gesehen, aber ich kenne die nicht alle.“
Man kann sie auch gar nicht alle kennen. Ein ganzes Forscherteam kartiert und notiert seit vielen Jahren die Flora und Fauna. Überhaupt war das Gelände einmal einzig und allein zu diesem Zweck erhalten worden. Nach dem Mauerfall existierten Pläne, die Gleise wieder für Ost-West-Verbindungen freizulegen oder ein großes Zugdepot auszubauen. Bis dato fristete der sich mausernde Biotop das Dasein eines Unberührbaren. Er lag zwar in Westberlin, gehörte aber der Reichsbahn (Ost).
Doch schon in den 80ern hatten sich auch die Bürgerinitiativen „Schöneberger Südgelände“ und „Westtangente“ für den Erhalt dieses einzigartigen Stücks Stadt – zurückerobert von der Natur – stark gemacht. Im Informationszentrum am Eingang des Parks am S-Bahnhof Priesterweg, dort wo der Wasserturm steht, erzählt ein Video des privaten Sponsors die Geschichte dieses jüngsten Stadtparks Berlins. Im ersten Geschoss eine kleine Ausstellung auch. An einer Theke bekommt man Broschüren, Marmorkuchen und Kaffee.
In einem Buch zum Schöneberger Südgelände erzählt Hanns M., Jahrgang 1923: „Als in den letzten Kriegstagen die Russen kamen, haben sie in die Kugel vom Wasserturm geschossen, mit einer Panzerkanone. Ich weiß nicht, ob da oben Deutsche gestanden hatten, ich war 1945 ja nicht in Berlin. Aber das große Loch war noch jahrelang zu sehen, das hatte bestimmt einen halben Meter Durchmesser.“ Aber diesen Monolithen haut nichts um, auch nicht sein dickes Fell aus Rost.
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