„grün 2020“ ist der Basis zu brav

Erstmals befasst sich die Basis der Grünen mit ihrem neuen Grundsatzprogramm. Die Delegierten halten sich mit Kritik an der Parteispitze nicht zurück

aus Bremen SVEN-MICHAEL VEIT

So ist es meistens, wenn Leute diskutieren. Sie fordern Visionen, ohne selbst welche zu benennen, vermissen klare Zielsetzungen, gemeinsame zuvörderst, und sprechen hauptsächlich über Wege. Die unscharfe Trennung zwischen Strategie und Taktik ist es, die solche Veranstaltungen in die Länge zieht. Die erste Regionalkonferenz der Bündnisgrünen über den Entwurf des neuen Grundsatzprogramms „grün 2020“ am Samstag in Bremen machte da keine Ausnahme.

„Ziele“, mahnte die Hamburger Parteichefin Antje Radcke eindringlich, „wir müssen grundsätzliche Ziele definieren, nicht Instrumente. Die kommen später.“ Eine Sichtweise, die zwar die etwa 200 norddeutschen Grünen aus Bremen und Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein beifällig teilten, der jedoch kaum jemand gerecht wurde. Einer der wenigen, die Perspektiven über mehrere Jahre hinweg entwickelten, war Ralf Fücks, Mitverfasser des Programmentwurfs (s. Interview). Dieser enthalte bewusst, so Fücks, „keine Rufe der grünen Kassandra“, spiegele mit Bedacht „nicht die Apokalypse“, denn gerade die gelte es ja zu verhindern durch Gedanken „bis übermorgen“, so der Untertitel des 70-seitigen Papiers.

Auf sechs weiteren Regionalkonferenzen bis Mitte Oktober und auf einer zweitägigen Sommerakademie am nächsten Wochenende in Berlin soll der Entwurf „überarbeitet und verbessert“ werden (Termine siehe Kasten). Die Verabschiedung ist für den Bundesparteitag Ende November in Rostock geplant. Dass bis dahin noch viel zu tun sei, mahnten fast alle Nordlichter an, die beim Bremer Auftakt das Wort ergriffen. Und zwar „nicht nur in Formulierungen“. Es fehle „der feministische Gedanke“, monierte die parteilose Bremer Frauenbeauftragte Ulrike Hauffe. Mit Genderpolitik habe das hier wenig zu tun, bemängelten mehrere Rednerinnen. Und die frühere Hamburger Parteichefin Kordula Leites urteilte kurz und knapp: „Dieses Programm klingt wie eine Regierungserklärung.“

So dürfe die Ökologie, eines von zwölf grünen „Schlüsselprojekten“, „nicht auf das technisch Machbare reduziert bleiben“, forderte die niedersächsische Parteichefin Heidi Tischmann. Auch die sozialpolitischen Aussagen seien „viel zu kurz gedacht“, so die Hannoveraner Landtagsabgeordnete Brigitte Pothmer. Sie mahnte „ein Konzept der sozialen BürgerInnengesellschaft“ an. Stattdessen formuliere der Entwurf „zu viele kleinteilige Rezepte, die für die nächsten 20 Jahre nicht tragen“. In einigen Teilen, vor allem im Kapitel über Behinderte, würden „nur völlig veraltete Ideen aufgewärmt“. Dafür, so Pothmer, „schäme ich mich, und ihr solltet das auch tun“.

Dass noch „einiges nachgebessert werden muss“, räumte denn auch Parteichef Fritz Kuhn ein, der sich von der Kritik „nicht überrascht“ zeigte. Zwar beharrte er darauf, dass dieses „Programm der linken Mitte ein visionäres ist“, beschränkte sich jedoch ansonsten auf Anmerkungen zur politischen Gegenwart. Der Entwurf des Einwanderungsgesetzes von Innenminister Otto Schily (SPD) sei „so nicht akzeptabel“, erklärte Kuhn und erhielt wenigstens dafür ungeteilten Beifall. Die Grünen würden „keine Migrantenkinder zweiter Klasse“ hinnehmen und auch „keine Verschlechterungen und größere Rechtsunsicherheiten für Einwanderer und für bislang hier Geduldete“. Was jetzt „als Kleingedrucktes zum Schily-Entwurf“ auf dem Tisch liege, „erfüllt wesentliche Ziele der Grünen nicht“. Darüber werde, kündigte Kuhn an, in der Bundeskoalition noch zu reden sein.

Wenig kompromissbereit zeigte er sich auch beimThema Globalisierung. Natürlich werde man mit den Kritikern von Attac „sprechen“, wie es Fraktionschefin Kerstin Müller in der taz vom 25. August angeboten habe. Es müsse aber allen bewusst sein, „dass die Grünen keine Antiglobalisierungspartei sind“. Attac und andere „werden den Grünen nicht diktieren, wie sie zu sein haben“, stellte Kuhn klar. Eine Aussage, die Attac-Sprecher Sven Giegold wenig ermunterte. Er forderte als Gastredner von den Grünen, sich für die Tobin-Steuer stark zu machen, „auch wenn es der SPD nicht passt“. Er sei „weiter gesprächsbereit“, aber wenn die Grünen „antworten wollen, dann sollten sie auch Instrumente benennen, die bei der Wirtschaft unbeliebt sind“.

Vielleicht hatte Ähnliches der Gastgeber der Tagung, der Bremer Parteichef Wolfram Sailer, bei seiner Begrüßungsrede im Sinn. Die Grünen hätten sich „im Kern nicht geändert“, behauptete er, seit sie 1979 „hier in Bremen erstmals Parlamentsmandate errangen“. Er freue sich, dass die Diskussion über das neue Programm „hier beginnt, in der Wiege der grünen Partei“.