: Nach fünf in Berlin
Überall ist es besser, wo wir nicht sind, und trotzdem lässt es sich überall gut aushalten: Achim von Borries’ DFFB-Abschlussarbeit „England!“ ist ein schöner Film über einen heiteren Ukrainer in einem sehr kalt wirkenden Berlin
England ist schön. Vor allem, wenn man keine Ahnung hat, was einen dort erwartet. „Weißt du, dass die Engländer nicht schwimmen können?“, fragt Victor seinen Freund Valeri. „Und sie leben auf einer Insel!“ Die beiden Ukrainer wollen nach England, weg aus ihrer Einöde, weg von Tschernobyl, wo sie als Freiwillige der Roten Armee aufgeräumt haben. Viktor ist schon vorgefahren nach Berlin. Valeri packt seine Luftmatratze und schwimmt ihm nach, nachts über die Oder.
Gesegnet seien die Nichtwissenden. Schlimm ist Berlin ja immer dann, wenn man weiß, dass man hier nicht mehr wegkommt. Als Valeri in Berlin landet, ist Victor schon tot. Auch er litt an der Strahlenkrankheit, die sich beide in Tschernobyl zugezogen haben. Jetzt sitzt Valeri mit seiner Pelzmütze allein in der grauen Hauptstadt und rotzt nachts sein Kopfkissen blutig.
Aber wer nun einen furchtbar traurigen Film vom harten Leben erwartet, kennt Valeri schlecht. Ivan Shvedoff spielt ihn mit nimmermüder Heiterkeit, dem Blick fürs Wesentliche und einer vagen Vorstellung von der deutschen Sprache, die ihr Ziel nie verfehlt. Das zierliche Bürschchen holt das Beste aus den Menschen, selbst wenn die es gar nicht verdienen. So auch aus Viktors Mitbewohner Pavel. Der mürrische Ikonenmaler wird von seinem neuen „Manager“ kurzerhand am Berliner Kunstmarkt etabliert. Haben die Leute hier verlernt zu reden? In Ostberliner Abrissvierteln erledigt er Pavels Nebenjob als Austräger, bis herauskommt, wo die Zeitungen wirklich gelandet sind. Und dann ist da auch noch die Russenmafia. Valeri macht sich nützlich, so gut er eben kann. So richtig sympathisch wird dieser Film erst durch Valeris entwaffnendes Lächeln. Aber auch die diversen Berliner Milieus zeichnet „England!“ vielschichtig und mit viel Zärtlichkeit. Wie immer es in den tieferen Verästelungen der russischen Community tatsächlich aussieht: der 32-jährige DFFB-Absolvent Achim von Borries vermittelt einen Eindruck davon, wie es sein könnte.
Auch fehlt es nicht an Zeichen dafür, dass die Schattenökonomie nicht gerade ein gemütlicher Ort ist. Und sobald unseren Glücksritter doch die Düsternis überkommt, sieht man, wie wenig Licht in diesem Film ist, bemerkt man die Kälte. In einer besonders trostlosen Nacht auf dem Alex trifft Valeri einen Bekannten aus dem Bus wieder. Man umarmt sich, küsst sich und erzählt, wie gut es gerade läuft im Leben. Dann trennt man sich, ohne die Nummern zu tauschen. „Ich bedaurre“, würde Valeri jetzt sagen. Da ist sie ja schon wieder, die neue Bitterkeit.
Wo doch „England!“ doch gerade davon erzählt, dass vielleicht wirklich einiges besser werden kann, wenn man die Sache gelassen angeht. Wenn einem nicht gerade dämliche Todesstrahlen durch die Adern zucken wie Valeri. Dann könnte jeder Ort ein guter Ort sein, dann würde man es weit bringen. Nach England, zum Beispiel. England! PHILIPP BÜHLER
„England!“ Regie: Achim von Borries. Mit Ivan Shvedoff, Merab Ninidze, Anna Geislerová u. a., D 2000, 98 Min. Ab heute in Broadway, Hackesche Höfe und Moviemento
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