: Festhalten, was war
Der Atlas „Nationalsozialismus in Norddeutschland“ schließt eine Lücke ■ Von Heinz-Günter Hollein
Die rosa Pfeile laufen in Hamburg zusammen. Zu jedem gehört ein kleiner Kasten. 50 aus Kiel und Neumünster steht in einem, 62 – nach anderer Quelle 64 – aus Lübeck in einem anderen, 105 aus Flensburg und Schleswig im dritten. Bis am 16. Mai 1940 im Fruchtschuppen 10 des Freihafens 551 Sinti und Roma „gesammelt“ sind. Vier Tage später weist ein dunkelroter Pfeil von Hamburg nach Osten. Nach jenseits des Kartenrandes. Jenseits, das ist das KZ Belzec in Polen.
Wer eine Landkarte liest, will sich orientieren, seinen Standort bestimmen, einen Überblick im zweidimensionalen Raum gewinnen. Wer eine „Ereigniskarte“ liest, dem eröffnet sich eine zusätzliche Dimension: die der Zeit, der Geschichte, der Menschen, die einmal waren. Wie jene 551 Sinti, deren Schicksal die Karte Nr. 42 im Atlas „Nationalsozialismus in Norddeutschland“ mit lapidarem Grauen dokumentiert.
Das Werk stellt dar, was in Fachkreisen ein Desiderat genannt wird, mithin eine Pionierarbeit. taz-Autor Kay Dohnke und der Kartograf Frank Thamm haben es gewagt, aus Tausenden von Einzeldaten die Abläufe und Auswirkungen einer Epoche in Heimarbeit zu rekonstruieren. Der Atlas ist chronologisch in vier große Abschnitte gegliedert: Aufstieg der NSDAP/Jüdische Bevölkerung (1925-32), Herrschaftsausübung (1933-39), Deportationen (1939-45), Lager und Todesmärsche (1939-45). Eingeleitet werden die Kapitel jeweils durch prägnant-knappe zwei Seiten Text, die den historischen Hintergrund und die Quellenlage resümieren.
Das Ergebnis ist spannend. Einige Karten sprechen für sich, etwa die großräumigen Deportationen jüdischer Patienten im Rahmen der „Euthanasie“. Wo die Datendichte eine grafische Darstellung ad absurdum geführt hätte, fügen die Autoren darüber hinaus „windows“ ein, die die Ereignisse quantifizieren: „April '38: 1 Person aus den Alsterdorfer Anstalten in die Pflegeanstalt Langenhorn; 23.1.39: 1 Person ins Versorgungsheim Oberaltenallee.“
Andere Karten werfen Fragen auf beziehungsweise verlangen den weiterdenkenden Leser. So ging ausweislich der Kartierung die politische Gewalt in Schleswig Holstein zwischen 1928 und 33 überwiegend von der NSDAP aus, während in Hamburg die Initiative mehrheitlich auf der Seite der KPD zu liegen schien. Tatsächlich war die KPD im städtischen Raum einfach nur besser organisiert, und es kam bei der Auflösung verbotener Veranstaltungen entsprechend häufiger zu Zusammenstößen.
Ein ähnliches Phänomen bietet die Quellenlage in Mecklenburg-Vorpommern. Hier wurde zu DDR-Zeiten vor allem der Widerstand der KPD dokumentiert, SPD und Gewerkschaften dagegen nur am Rande erfasst. Auch die Spurensicherung zur Lage der jüdischen Bevölkerung war seinerzeit nicht opportun, wurde doch Israel dem westlichen Lager zugerechnet. Es ist das Verdienst des Buches, diese schwarzen Löcher präzise zu lokalisieren.
Ein weiterer Reiz der Kartensammlung besteht in der Entde-ckung vergessener Alltagsdramen in der Provinz. So wurde Bauer P. aus Groß Twülpstedt bei Wolfsburg am 13.2.42 vom Vorwurf des Schwarzschlachtens freigesprochen, derweil Schlachter Sch. aus dem benachbarten Groß Sisbeck an diesem Tag bereits das erste seiner dreieinhalb Jahre Zuchthaus abgesessen hatte.
Wer Interesse an einer Mikrountersuchung seiner unmittelbaren Umgebung hat, der erblättert sich in den Karten ein weites Feld. Von der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe Norden (Ende 1927/Anfang 28) über die Anzahl der jüdischen Einwohner des ostfriesischen Hafenstädtchens (Stand Volkszählung 1925: 231) und ihrer Einrichtungen (Synagoge, Schule, Friedhof) bis zur Nutzung des Lokals „Börse“ als Folterstützpunkt der SA im Frühjahr 33.
Ein Manko des Buches, dem eine weitere Auflage abhelfen sollte, sind die aufgrund des griffigen Formates (DIN-A 5) stellenweise arg klein geratenen Beischriften. Gelegentliche Tippfehler (Stromarn statt Stormarn) sind den Autoren angesichts ihrer herkulischen Two-man-show ohne weiteres nachzusehen. Angesichts der Ergiebigkeit der vorgelegten Karten ist zu hoffen, dass der Verlag Wege – und Mittel – findet, derartige Atlanten auch für die übrigen Regionen der Republik erstellen zu lassen.
Kay Dohnke, Nationalsozialismus in Norddeutschland – Ein Atlas, Europa Verlag, 38,50 Mark
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