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Die Hirnschrittmacher

Zurück in die Zukunft: Mit seiner neuen Intelligenz-Show, die Günter Jauch am 8. September startet, will RTL „den klügsten Deutschen“ finden. Wir sind wieder bei Walter Benjamin, der die Gesellschaft als soziales Kontinuum endloser Prüfungen sah

Die IQ-Prüfung ist der unverhohlene ideologische Versuch, ein biopolitisches Sortierprinzip zu legitimieren

von TOM HOLERT

„Es war das Jahr 2081, und alle waren endlich gleich. Sie waren nicht nur gleich vor Gott und vor dem Gesetz. Sie waren gleich in jeder Hinsicht. Niemand war schlauer als irgendjemand sonst. Niemand sah besser aus als irgendjemand sonst. Niemand war stärker oder schneller als irgendjemand sonst.“ In der Kurzgeschichte „Harrison Bergeron“ entwickelte Kurt Vonnegut das Szenario einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Menschen mittels allerlei Benachteiligungen auf das erwünschte Normalmaß gebracht werden. Eine staatliche Handicap-Organisation befiehlt das Tragen von hässlichen Masken oder von Gewichten, die hinderlich am Körper herunter hängen, um Unterschiede in Schönheit und Beweglichkeit auszugleichen. Leute von übernormaler Intelligenz müssen ein kleines Gerät im Ohr tragen, das Geräuschsignale sendet, die den „unfairen“ Einsatz von Hirnvorteilen verhindern sollen. Das Prinzip der Gleichheit duldet keine Ausreißer.

Betrachtet aus der Perspektive durchindividualisierter spätkapitalistischer Gesellschaften, wirken solche Korrekturverfahren im Dienste der Normalität unerträglich. Technische Handicaps, mit denen die Hirntätigkeit auf Durchschnittsniveau gebracht wird – nichts könnte schließlich den Idealen einer meritokratischen Ordnung mehr widerstreben. Vonneguts 1961 veröffentlichte Erzählung von der Handicap-Gesellschaft war Science fction als Kritik einer in der Gegenwart angekommenen Zukunft. Unschwer lässt sie sich als Parabel über den Konformismus der Nachkriegs-USA lesen: Hinter den Fassaden des Individualismus, da herrscht der Totalitarismus des Gleichen; die Märchen von Differenz und Distinktion, sie verschleiern lediglich das unerbittliche Gesetz der Egalität.

Eine andere These, die man Vonneguts negativer Utopie mit der Pinzette entnehmen kann: Das literarische Bild einer Gesellschaft der „normalisierten“ Gehirne ist durch sein Gegenteil geprägt: das Drama des überdurchschnittlich funktionierenden Gehirns. „Der Prüfstein für eine erstrangige Intelligenz“, schrieb F. Scott Fitzgerald, „ist die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen zugleich im Kopf zu haben und doch weiter in Funktion zu bleiben.“ Vonneguts Intelligenzfabel mag nicht ganz so dialektisch und erstrangig sein, wie es sich Fitzgerald gewünscht hätte. Aber sie fände Anklang bei einem geselligen Abend von „Mensa“ oder anderer High-IQ-Organisationen, wo man einen Intelligenzquotienten über 130 nachweisen muss, um zu einer Konformität höherer Ordnung zugelassen zu werden.

Dass Harrison Bergeron, Vonneguts hoch begabter halbwüchsiger Held, sich dem Regime der Gleichheit zu entziehen versucht und daran am Ende brutal gehindert wird, macht ihn zum Intelligenzmärtyrer. Harrisons Schicksal bedeutet: Im kalten Krieg gegen den Konformismus werden die Menschen auf dem breiten Scheitelpunkt der Gaußschen Glockenkurve der statistischen Normalverteilung zur tödlichen Masse der Gleichen. Zur Mehrheit, die das Besondere und Hervorragende dumpf aussitzt.

Sowohl die Befürworter von Genie-Samenbanken als auch die Lobby der Hochbegabten suchen bisweilen Trost in solchen Geschichten. Die ausgegrenzte Intelligenzbestie ist die mythische Gründerfigur ihres Elitendiskurses. Allerdings können hoch Begabte und deren Eltern etwa seit Ende der Siebzigerjahre mit einer stetig wachsenden Medienaufmerksamkeit rechnen. Sie sind längst die Lieblinge einer antiegalitären Pädagogik. Auch die Ideologen der so genannten Wissensgesellschaft umwerben sie. Aus der belächelten Minderheit der Streber, Wunderkinder und Nerds wurde, nicht zuletzt bedingt durch den demographischen Trend hin zu Familien mit Einzelkind, eine gehätschelte Intelligenzkaste, der jede Sonderförderung zugestanden werden soll. Junge „Genies“ wie Franz Kiraly, „Deutschlands klügster Junge: Abi mit 14!“ (Express), oder der fünfjährige Lennart (Bild am Sonntag: „Einstein junior“) sollen dazu beitragen, den Weg in die zerebrale Kultur zu ebnen. Und zweifellos wird „Intelligenz“ als Auswahlkriterium künftiger pränataler Manipulationen am Produkt „Kind“ eine hervorragende Rolle spielen.

Bis es gentechnisch so weit ist, kümmern sich Fernseh-, Männer- oder Frauenzeitschriften um das Thema: „Wie kann man seine Intelligenz in Form halten und weiter ausbauen?“ Kein Problem: „Schon 15 Minuten Gehirn-Training täglich können die Intelligenz eines normalen Menschen steigern“ (TV Hören und Sehen). Auch das „Power-Programm fürs Gehirn“ steht für Sie bereit: Im Buchladen stapeln sich Ratgebertitel wie „Brainfood – Essen, das intelligent macht“ oder „IQ-Training – Ihr Weg zum Erfolg“. Und sollte der IQ einmal sinken (etwa im Urlaub, was ein „Medizinpsychologe“ erforscht haben will), helfen Kaugummikauen oder einige Runden „Gehirnjogging“.

Zentralorgane des Intelligenz-Boosting wie das Nachrichtenmagazin Focus („Ganz neu denken!“) versorgen die Öffentlichkeit regelmäßig mit Begabungstests für Kinder, „Bedienungsanleitungen für das Gehirn“ oder Titelgeschichten wie: „So klug macht der Computer“. Seit Jahren boomt überdies das populärpsychologische Geschäft mit der Ausdifferenzierung: Viele, viele Sub- und Sonderintelligenzen wurden entdeckt, von „emotional“ bis „ökologisch“, von „sozial“ bis „radikal“. Oft wollen diese verschiedenen Intelligenzen nicht miteinander harmonieren. Doch bislang fand sich noch immer ein Sachbuchbestseller, der die eine Facette mit der anderen zu kombinieren wusste.

Traditionell besonders hingebungsvoll wird die Intelligenzkultur in den USA gepflegt. Hier, wo der standardisierte Intelligenztest als Sockel der amerikanischen Meritokratie verehrt wird, lassen sich hervorragend die Widersprüchlichkeiten des „zerebralen Snobismus“ (Jean Baudrillard) studieren. Mitunter auf höchster Ebene: Während Hillary Clinton in die Erziehung ihrer Tochter Chelsea spezielle Maßnahmen zur Intelligenzförderung einfließen ließ und frühzeitig einen Studienplatz in Stanford anvisierte, berichtet Mark Crispin Miller, Autor von „The Bush Dyslexicon: Observations on a National Disorder“, über den aktuellen Präsidenten, dieser sei „ungebildet und unbelesen“, aber nicht „blöd“: George W. Bush besitze vielmehr eine „gewisse Schläue“, weshalb man sich keinen Gefallen tue, ihn als „Dummkopf“ abzustempeln.

Zwischen hirnaktivierenden Diäten, mangelhaftem Bildungswissen und der „gewissen Schläue“ klaffen die verwirrenden Abgründe der Bestimmung von „Intelligenz“. Niemand weiß, was unter Intelligenz zu verstehen ist, aber jeder hat eine Definition parat. Und deshalb wird periodisch auf jene Methode der Intelligenzermittlung zurückgegriffen, der man am ehesten so genannte Wissenschaftlichkeit zutraut: den Intelligenztest. So hatte der US-Sender Fox im letzten Jahr großen Erfolg mit „Challenge of the Child Geniuses“, einer Quizshow mit dem erklärten Ziel, „the smartest kid in America“ zu küren. Die kleinen Kandidaten präsentierten sich dem Publikum mit reizenden Sätzen wie: „Ich habe einen IQ von 189“. Das rief ein paar Kinderpsychologen auf den Plan, kam aber ansonsten bestens an – schließlich wusste man jetzt, worum es ging, bei der Intelligenz.

Das Kinderintelligenzquiz griff vergleichbare Sendekonzepte aus den Sechzigerjahren auf, ähnlich wie dies schon bei „Who Wants to Be a Millionaire“ der Fall war. RTL und Günther Jauch, die deutschen Nutznießer dieses globalen Quizrevivals, werden vom 8. September an mit „Der große IQ-Test“ versuchen, den Erfolg des Millionärsquiz noch zu überbieten. Der IQ-Schaukampf brachte bereits in Holland gute Quoten und soll jetzt helfen, den „klügsten Deutschen“ (RTL) zu finden. Jauch wird als Gastgeber von der Öffentlichkeit schon jetzt für den „geistig fittesten Deutschen“ gehalten (vor Gerhard Schröder und Thomas Gottschalk). Dies ungeachtet der Tatsache, dass ihn Bild („Wie schlau ist eigentlich Jauch?“) im Februar 2001 an der 500.000-Mark-Frage im „Wer wird Millionär?“-Test scheitern sah.

Gegen die Boulevardisierung des IQ, die mit der „Großen IQ-Show“ neue Maßstäbe zu setzen verspricht, wehren sich die High-IQ-Vereine; sie bangen um das Exlusivitätsrecht auf Hochbegabung. Auch bedenkenträgerische Medienkritiker warnen schon vor den Konsequenzen eines Psycho-Outings in der Fernsehöffentlichkeit. Dabei geht es um mehr als den Schutz der einzelnen Kandidaten. Denn das Intelligenztestformat ist ein Paradefall der „Erweiterung des Feldes des Testierbaren“, von dem Walter Benjamin bereits in den Dreißigerjahren sprach. Benjamin beobachtete in der Gesellschaft seiner Zeit ein soziales Kontinuum der Prüfungen. Es reichte von den Berufseignungsprüfungen bis zur Kontrolle des Schauspielers durch die Kinoapparatur und spiegelte die „ökonomischen Umstände des Individuums“. Im Anschluss an Benjamin rückte Theodor W. Adorno die kulturindustrielle Deformation der „moralischen Kategorie“ der Intelligenz ins Zentrum seiner Kritik an der Dummschläue, einem Intelligenztyp, der sich lediglich im Quiz beweise. Unter der Überschrift „I.Q.“ heißt es in Adornos „Minima Moralia“: der „Gedanke“ benehme sich „tendenziell bereits von sich aus, als ob er unablässig seine Tauglichkeit darzutun hätte“; Denken zeige sich in der „Stichprobe zur Denkfähigkeit“.

Die IQ-Prüfung vor Millionenpublikum ist nichts weiter als der unverhohlene ideologische Versuch, ein biopolitisches Sortierprinzip zu legitimieren, das allen Eignungsprüfungen, Assessment-Centern, PIDs und Einwanderungskontrollen zugrunde liegt – durch Familienfernsehen zur besten Sendezeit. Die Kategorie der „Intelligenz“ und das Verfahren der IQ-Messung sind für dieses Unternehmen eine perfekte symbolische Wahl. Der IQ wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zu keinem anderen Zweck erfunden, als soziale Hierarchien zu zementieren. Seine rassistischen Verwendungen sind wohl dokumentiert. „Die große IQ-Show“ verhält sich komplementär zur Handicap-Gesellschaft in Kurt Vonneguts Parabel. Die abweichende Intelligenz wird per Verfahren normalisiert, die Gaußsche Glockenkurve ein weiteres Mal stabilisiert. Und vielleicht greifen die IQ-Kandidaten bei ihrer Vorbereitung demnächst nicht nur auf Brainfood, Gehirnjogging, Smart Drugs oder ihre Gene zurück, sondern bedienen sich des allerneuesten Anti-Handicaps: In ihrer Septemberausgabe berichtet die Technology Review des MIT von ersten Erfolgen mit elektronischen Hirnschrittmachern. Sie stecken bereits in den Köpfen menschlicher Patienten.

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